Cana Bilir-Meier thematisiert europäische Nachkriegsgeschichte, indem sie Privatarchive und Medienbilder verknüpft. Im Bild ein Still aus "Prolog Yorgun Savasçi" (dt. "Prolog Müde Kämpfer", 2016).

Foto: Cana Bilir-Meier

Entschlossen, Position zu beziehen: Cana Bilir-Meier.

Foto: Julian Paul Stockinger

Wien – Die Großeltern waren ab 1962 in Deutschland das, was man damals "Gastarbeiter" nannte. Sie hatten sechs Töchter. Eine von ihnen, Semra Ertan, verbrannte sich 1982 im Alter von 25 Jahren öffentlich in Hamburg: aus Protest wider die Feindseligkeit der "Einheimischen" gegenüber "Ausländern". Die Künstlerin Cana Bilir-Meier, geboren 1986 in München, hat unter anderem eine Familiengeschichte aufzuarbeiten. Für die Art, wie sie das tut, erhält sie 2016 den Birgit-Jürgenssen-Preis.

Die mit 5000 Euro dotierte Auszeichnung geht seit 2004 alljährlich an eine an der Wiener Akademie der bildenden Künste studierende Künstlerin oder einen Künstler aus dem Bereich (digitale) Medien, Fotografie oder Video. Birgit Jürgenssen (1949-2003), Fotografin, Zeichnerin und auch Performerin hat dort gelehrt und war, wie Peter Weibel einmal meinte, das "missing link" zwischen Maria Lassnig und Valie Export. Der Preis soll an die außergewöhnliche Wienerin erinnern. Im Vorjahr wurde er an Daniela Grabosch aus Carola Dertnigs Lehrgang für performative Kunst verliehen.

Cana Bilir-Meier studiert Kunst und Digitale Medien bei Constanze Ruhm. Ihre Filme waren in jüngster Zeit unter anderem beim Ankara Film Festival, im Mumok, bei der Grazer Diagonale oder im urban-research-on-film-Festival zu sehen, und das Tanzquartier Wien zeigte im Rahmen von "kültür gemma!" eine Performance als Einblick in ihr Werk. Diese Künstlerin arbeitet an einem Schattenreich der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Bauzeichnerin, Dolmetscherin und Schriftstellerin Semra Ertem hat es nach nur zehn Jahren im deutschen Wirtschaftswunder nicht mehr ausgehalten. Warum? Ihre Selbstverbrennung lässt an Jan Palachs Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings nur 13 Jahre davor denken.

Ertems Eltern – und Bilir-Meiers Großeltern – waren von der türkischen Mittelmeerstadt Mersin nach Kiel gekommen. Der Vater hat das Leben der Familie in Deutschland und in der Türkei über drei Jahrzehnte hinweg dokumentiert: mit Tonbändern, Objekten, Fotos und Musik. Solche Privatarchive sind wertvoll, weil sie gesellschaftliche Realitäten direkt aus dem sozialen Leben heraus speichern.

Das Archiv der Großeltern studieren, Kontexte recherchieren und diese Quellen in künstlerische Arbeiten übersetzen – so bringt Bilir-Meier nicht nur Dokumente an die Öffentlichkeit, sondern auch die Lebenswirklichkeit, in der sie entstanden sind: Das Leben der "Gastarbeiter" von einst ist den Europäern so unbekannt wie jenes der "Flüchtlinge" von heute. Diese Ausblendung über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg zeigt, dass das Fremde auch etwas ist, zu dem Menschen gemacht werden.

Bilir-Meier befasst sich generell mit dem Geschichtenerzählen, aber auch mit politischen Themen aus der Türkei. In der Begründung der Jury heißt es: "Die künstlerische Reife des Werks, die Entschlossenheit, eine politische und gesellschaftliche, nicht zuletzt feministische Position zu beziehen, aber auch die Nachdenklichkeit, mit der die eigenen Positionen immer wieder aufs Neue befragt werden, haben überzeugt." (Helmut Ploebst, 11.4.2016)