Im Netzwerkmodell des Römischen Reiches zeigt die Farbe der Knoten die Zugehörigkeit zu den in der Struktur identifizierten Subnetzwerken – "Clustern" – an. Die Größe der Knotenpunkte gibt die "Zentralität" der Orte an, also den Grad der Konzentration relevanter Strukturelemente.

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Wien – Nach der Hinrichtung seiner frisch angetrauten Frau versammelt William Wallace alias "Braveheart" seinen Clan, seine Freunde und seine Verwandten, um sich gegen die englische Tyrannei zu erheben – so besagt es jedenfalls die Verfilmung der Geschichte des mittelalterlichen schottischen Volkshelden. Für Johannes Preiser-Kapeller vom Institut für Mittelalterforschung der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ist er ein Einzelkämpfer, der sein Netzwerk aktiviert, um einen Konflikt zu lösen. "Dieser Braveheart-Zugang ist durchaus ein Narrativ, das es auch in mittelalterlichen Quellen gibt", erklärt der Historiker, der Mittelalterkonflikte analysiert.

Der individuellen Initiative stehen große, übergreifende Narrative gegenüber, die die Kraft haben, eine Vielzahl von Netzwerken zu mobilisieren – etwa wenn das Papsttum dazu aufrief, im Zuge eines Kreuzzugs ins Heilige Land aufzubrechen. "Bei der Entwicklung von Konflikten in der mittelalterlichen Welt spielen diese beiden Ebenen zusammen und gehen ineinander über", sagt der Wissenschafter.

Die Arbeit von Preiser-Kapeller und Kollegen zu sozialen Netzwerken des Mittelalters wird zusammen anderen Projekten bei der Konferenz "Entangled Worlds" präsentiert, die noch bis Freitag in Wien stattfindet. Organisiert vom Institut für Mittelalterforschung und vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) der ÖAW werden Ansätze versammelt, die mit Netzwerkanalysen und Komplexitätstheorie neuartige Blicke auf historische Welten werfen.

Diese Werkzeuge werden auch genutzt, um Enzyminteraktionen, Wirtschaftssysteme oder andere biologische, soziale oder physikalische Zusammenhänge zu modellieren. "Der Nutzen für die Geschichtswissenschaften ist, dass man Beziehungen und Verbindungen zwischen Personen, Orten, Texten oder Begrifflichkeiten systematisch erfasst, visualisiert und analysiert", sagt der Forscher. Diese Aufbereitung macht soziale oder geografische Verflechtungen sichtbar und begünstigt auch ein intuitives Verständnis.

Knotenpunkte berechnen

Noch wichtiger ist aber der mathematische Zugang, der sich eröffnet. "Man kann die Modelle systematisch mithilfe entsprechender Software analysieren", so der Historiker. Aus den Modellen lässt sich ableiten, ob und warum ein Ort oder eine Person eine zentrale Rolle in wirtschaftlichen oder politischen Netzwerken innehat, wie belastbar diese Konstrukte sind, wo schon vor einem Zerfall Sollbruchstellen angelegt sind.

"Das Interessante ist, dass man die Netzwerke über Grenzen der Disziplinen hinweg vergleichen kann. Man sieht, wie ähnlich die Mechanismen der Netzwerkaktivierung im mittelalterlichen Westeuropa, in der islamischen oder chinesischen Welt waren", sagt Preiser-Kapeller. Vorträge widmen sich etwa dem sozialen Netzwerk eines Bürgermeisters im spätmittelalterlichen Wien oder jenem eines Druckermeisters im China des 13. Jahrhunderts.

Zu den Quellen des Projekts zu den Mittelalter-Konflikten gehören Urkunden und Briefe, die Interaktionen und Beziehungen bezeugen, indem sie erwähnen, wer verwandt war, wer am selben Ereignis teilgenommen, wer Geschäfte abgeschlossen hat. Diese "Artefakte der Interaktion" werden in der eigens entwickelten Datenbank "OpenAtlas" erfasst und in Kategorien eingeteilt, etwa Freundschaft, Verwandtschaft, Wirtschaftsbeziehungen. Für alle Kategorien werden Netzwerkmodelle errechnet, die man dann zu einem Gesamtnetzwerk überblenden kann, sagt Preiser-Kapeller. "Um ein solides Netzwerk entwickeln zu können, ist eine bestimmte Quellendichte nötig."

Bestehende Modelle werden für weitere Untersuchungen wirtschaftlicher, religiöser oder anderer Dynamiken verwendet. Am Netzwerkmodell der Infrastruktur des Römischen Reiches lässt sich nicht nur die Ausbreitung des Christentums nachvollziehen, wie das in einem Partnerprojekt an der Universität Brno versucht wird, sondern auch die Verbreitung destabilisierender Faktoren wie Seuchen. "Die Justinianische Pest schwappte im sechsten Jahrhundert von Alexandria nach Konstantinopel und über den ganzen Mittelmeerraum hinweg", so Preiser-Kapeller. "Die gut ausgebauten Verbindungen begünstigten die Ausbreitung und schwächten damit wiederum die Bedingungen für die Fortexistenz der überregionalen Verbindungen."

Singuläre Römer

Ein Netzwerkmodell lässt das Römische Reich als Zusammenschluss regionaler Subsysteme erscheinen, Cluster, die durch staatliche Anstrengung und ökonomischen Interaktionen zu einem Gesamtsystem integriert waren. Entfällt die wirtschaftliche und administrative Verbindungsleistung, bröckelt das System. Das Römische Reich als Vereinheitlichung aller regionalen Netzwerke wird so zur davor und danach unerreichten Singularität in der Geschichte des Mittelmeers.

Gemeinsam mit dem ÖAI beziehen die Wissenschafter auch die "Netzwerke von Objekten" in die Analyse mit ein. "Die Verteilung von Artefakttypen wie bestimmten Keramiken gibt Aufschluss darüber, wie sehr sich Orte kulturell ähnlich waren", erklärt Preiser-Kapeller. "Ein Hafen konnte einem anderen, weit entfernten Hafen viel ähnlicher sein als einem Ort, der 50 Kilometer im Hinterland liegt." Ähnliche Phänomene könne man auch heute beobachten: "Ein zentraler Ort in der sogenannten Dritten Welt kann in den gemeinsamen Artefakten der Globalisierung Orten in Europa oder den USA mehr ähneln als einem Dorf an seiner Peripherie. Distanz war ein begrenzender Faktor bei der Netzwerkbildung, konnte aber auch überwunden werden." (Alois Pumhösel, 13.4.2016)