"Brasilien ist nicht für Anfänger", sagte einst der berühmte Bossa-Nova-Komponist Tom Jobim. Das trifft besonders auf die Politik der vergangenen Jahre zu. Etwas weniger als drei Jahre vor der aktuellen Regierungskrise schien alles in Ordnung in Brasilien: Wirtschaftlicher Aufschwung ging einher mit deutlicher Reduktion der Armut. Die Bilanz der Mitte-links-Regierung war beeindruckend. Der charismatische Exgewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva erreichte Rekordbeliebtheitswerte als Präsident.
2010 übergab Lula die Präsidentschaft an die ehemalige Widerstandskämpferin gegen die Militärdiktatur, Dilma Rousseff. Sie galt zwar bis dahin eher als kompetente Managerin denn als charismatische politische Führungsperson, verzeichnete aber vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und sozialen Erfolge Beliebtheitswerte von mehr als 60 Prozent – bis zum Fifa-Intercontinental-Cup 2013. Mit den größten Massenprotesten seit Anfang 1992 – als Präsident Collor de Mello wegen Korruption des Amtes enthoben wurde – wurde die Beliebtheit der Präsidentin schlagartig halbiert.
Auch die aktuellen Proteste thematisieren Korruption. In der Tat wurden in den vergangenen Jahren einige Skandale aufgedeckt. Enthüllungen um die mehrheitlich staatliche Erdölfirma Petrobras (der bis dahin umsatzstärkste Betrieb des Landes) erschütterten seit Ende 2014 die brasilianische Öffentlichkeit. Mit dem Chef der Firma Odebrecht wurde unlängst einer der mächtigsten Unternehmer des Landes wegen der Verwicklung in den Skandal zu 19 Jahren Haft verurteilt. Wichtige Politiker der größten politischen Parteien werden verdächtigt und sitzen teilweise ebenso in Untersuchungshaft wie auch Lobbyisten und weitere Unternehmer.
Arbeiterpartei verlor Nimbus
Auffällig ist, dass zwar Politiker aller großen Parteien mit Korruption in Verbindung gebracht werden, aber die Arbeiterpartei im Fokus der großen Proteste steht – insbesondere die aktuelle Präsidentin und Expräsident Lula. Gegen Letzteren erhob Staatsanwalt Sergio Moro kürzlich Anschuldigungen, er habe ein Luxusapartment von einem Unternehmer als Gegenleistung für Gefälligkeiten erhalten und nicht deklariert. Lula, der das Apartment nie nutzte, bestreitet die Anschuldigungen, er habe Dokumente gefälscht und Geld gewaschen. Staatsanwalt Moro musste sich vor kurzem aus den Untersuchungen zurückziehen, da er fundamentale Rechte des Expräsidenten verletzt hatte. Sowohl bei Lula als auch bei Rousseff bleibt unklar, ob die Beschuldigungen haltbar bleiben werden.
Die Anschuldigungen wiegen dennoch schwer, da die Arbeiterpartei nun den Nimbus verlor, die moralisch überlegene, korruptionsfreie politische Alternative zu sein – besonders in der Mittelschicht. Besserverdienende mit überdurchschnittlicher Ausbildung sind es auch, die seit Anfang 2015 in den großen Städten des Landes die Absetzung der Präsidentin fordern. Slogans wie "Dilma raus", "Lula ins Gefängnis", "Brasilien wird Kuba" oder "Kommunismus raus" untermauern die wütenden Proteste. Die größten Protestgruppen werden von Wirtschaftsverbänden wie der Industriellenvereinigung unterstützt. Daher tragen immer mehr Protestierende aufblasbare Enten, um gegen das "Schröpfen" des Staates zu protestieren, der unter der Mitte-links-Regierung zu groß geworden sei.
Absetzung Rousseffs wahrscheinlich
Rousseff wird zwar auf den Demonstrationen als "korrupt" diffamiert, es gibt aber diesbezüglich keine offiziellen Anschuldigungen. Ihr wird formell vorgeworfen, gegen ein Gesetz "fiskalischer Verantwortung" verstoßen zu haben, das noch aus der neoliberalen Ära der 1990er-Jahre stammt. Um staatlichen Verpflichtungen für Sozialausgaben nachzukommen, wurden Gelder 2014 während ihrer letzten Präsidentschaft zu lange von den Staatsbanken ausgeliehen. Mit diesem Vorwurf vermieden die Parlamentarier eine Untersuchungskommission zur Finanzierung des Wahlkampfes. Über die Gründe kann bloß spekuliert werden. So war etwa der aktuelle Parlamentspräsident Eduardo Cunha von der Koalitionspartei PMDB nicht nur für die Finanzierung des Wahlkampfes seiner Partei verantwortlich, sondern ist auch aktuell mit Beweisen konfrontiert, fünf Millionen US-Dollar auf einem Schweizer Bankkonto deponiert zu haben. Aktuell gilt er als Rädelsführer gegen die Regierung und konnte seine eigene Absetzung bisher verhindern.
Vielmehr scheint die Absetzung der Präsidentin nun wahrscheinlicher. Nachdem sich die innerpolitische Krise zuspitzte, bot sie Lula an, das wichtigste Ministerium des Landes zu leiten. Das kann als Schritt zur Steigerung der Regierungsfähigkeit gesehen werden, aber auch als Versuch, ihn vor gerichtlicher Verfolgung zu schützen. Die PMDB nahm die Ereignisse der vergangenen Wochen zum Anlass, die Koalition aufzukündigen. Im Falle einer Amtsenthebung Rousseffs wäre der Vizepräsident und PMDB-Politiker Michel Temer Präsident. Aktuell bereitet er daher eine eigene Kampagne zur Unterstützung des Impeachment vor. Aller Voraussicht nach hätte das eine konservative Regierung zu Folge.
Vielfältige Proteste
Die aktuellen Ereignisse zeigten einerseits eine besser funktionierende Justiz. Sowohl Medien als auch wichtige Justizbeamte scheinen aber in der Verfolgung von Politikern der Arbeiterpartei auffällig konsequent zu sein. Daher wird bei deren Anhängern von "Putschismus" gesprochen. Friedliche Demonstrationen für Demokratie vereinten jüngst weite Teile der brasilianischen Linken. Dabei handelt es sich um Menschen verschiedenster ethnischer und sozialer Zugehörigkeit. Obwohl viele von der Regierung enttäuscht sind, stellen sie sich entschieden gegen die Offensive von rechts. In Anlehnung an den zentralen Slogan der Demonstrationen gegen die Fußball-WM ("Nao vai ter copa", Es wird keine WM geben) sammeln sich die Linken des Landes nun unter dem Motto "Não vai ter golpe", Es wird keinen Putsch geben.
Auf der anderen Seite gehen vordergründig Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen auf die Straße. Neben Korruption prangern sie auch die "übermäßigen" Sozialleistungen an und stellen Forderungen wie nach Aberkennung des Wahlrechts für Sozialhilfeempfänger – hauptsächlich Frauen. Unter ihnen mehrten sich auch Stimmen, die einen Militärputsch als beste Lösung sehen.
Der Ausgang der aktuellen Auseinandersetzungen bleibt ungewiss. Trotz der Kritik am widersprüchlichen Kurs der Regierung ist sich die Linke aktuell weitgehend einig im Kampf gegen Putschismus. Verteidigt werden vor allem die demokratischen Reformen seit dem Ende der Militärdiktatur Mitte der 1980er-Jahre und die sozialen Verbesserungen der vergangenen Jahre. Für Brasilien bleibt zu hoffen, dass diese Errungenschaften nicht der aktuellen Krise zum Opfer fallen. (Bernhard Leubolt, 13.4.2016)