STANDARD: Hat Österreich mit seiner kleinstrukturierten Wirtschaft besondere Chancen oder Risiken in Bezug auf Industrie 4.0?
Lothar Roitner: Ich denke, dass die Chancen von Industrie 4.0 nicht von der Struktur eines Wirtschaftsbereiches abhängen, sondern von seiner Innovationskraft. Wir haben in Österreich einen sehr hohen Industrialisierungsgrad, fast 20 Prozent, und auch sehr viele hochqualifizierte Arbeitskräfte in der Technik. Außerdem gibt es zahlreiche Vorreiter in den Schlüsseltechnologien für Industrie 4.0, wie etwa der Sensorik oder Mikroelektronik. Österreich wird in einer Studie zu dem Thema, mit der die EU-Kommission das Beratungsunternehmen Roland Berger beauftragt hatte, als "Frontrunner" bezeichnet. Wir weisen also, neben Deutschland, Irland und Schweden, das größte Umsetzungspotenzial für Industrie 4.0 auf, gemessen an intelligenten Produktionsprozessen, Automatisierungsgrad, Wertschöpfungspotenzial. Die österreichische Industrie hat gute Chancen, die wir nun nicht verspielen dürfen.
STANDARD: Bei Industrie 4.0 verschwimmen Firmen- ebenso wie Branchengrenzen. Was bedeutet das für die Zukunft?
Roitner: Ja. Grenzen werden verschwimmen. Wir sehen das bereits bei der Maschinenbau- und Elektronikindustrie und IT. Die Mechatronik führt die drei Disziplinen zusammen. Bei Industrie 4.0 ist im Wesentlichen eine Volldigitalisierung gemeint, die als Vision in der letzten Ausbaustufe alle Bereiche umfasst: die digitale Entwicklung, Prozessplanung, Fertigung bis zum After-Sale-Service wie Wartung und Instandhaltung der Maschinen. Vor allem der letzte Punkt birgt großes Potenzial für neue Geschäftsfelder: Wenn jedes Produkt, jedes Bauteil seine eigene IP-Adresse hat, weiß der Hersteller, wo sich die Bauteile befinden. Liefern diese regelmäßig Daten über Funktion und Fehler, kann zum Beispiel frühzeitig eine Wartung veranlasst werden, um Stillstand in der Produktion und damit Kosten zu vermeiden.
STANDARD: Nun hat Österreich eine starke Zulieferindustrie, die sich in eine solche Wertschöpfungskette besonders gut einfügen muss. Was bedeutet die zunehmende Digitalisierung für die?
Roitner: Auf der einen Seite sind es wir, die Elektro- und Elektronikindustrie und der Maschinenbau, die die Technologien dafür zur Verfügung stellen, zum Beispiel Mikroelektronik, Leistungshalbleiter, RFID oder Sensorik. Auf der anderen Seite sind unsere Firmen auch die Anwender und Betroffenen dieser Entwicklung. Ihre Frage geht in die zweite Richtung: 90 Prozent der in Österreich hergestellten Elektro- und Elektronikprodukte sind Investitionsgüter, zehn Prozent Konsumgüter. 80 Prozent der Produktion gehen in den Export.
STANDARD: Also Zulieferfirmen?
Roitner: Ja, und die sind natürlich massiv betroffen. Deshalb geht es bei dem Thema nicht darum, ob Österreich bei Industrie 4.0 dabei sein will oder nicht. Diese Entwicklung findet statt. Es geht vielmehr darum, wie wir diese Entwicklung gestalten.
STANDARD: Ein Beispiel?
Roitner: Die Kfz-Zulieferindustrie. Der Anteil von Informations- und Kommunikationstechnologien in Autos steigt ständig und liegt bei 50 Prozent. Die großen Automobilkonzerne und unsere Elektronikzulieferer sind bereits jetzt eng verzahnt. Die Automobilhersteller geben den Takt vor. Der Kunde kann schon heute exakt die Fahrzeugausstattung bestellen, die er möchte – vom Scheinwerfer über Sicherheitssysteme bis zur Einparkhilfe. Die Zulieferer erhalten von den Autokonzernen genaue Anforderungen samt technischen Protokollen für die Fertigung. Das heißt, die Zulieferindustrie ist in die digitale Wertschöpfungskette integriert.
STANDARD: Die Datenmengen, die dabei anfallen, werden immer umfangreicher. Betreibt Österreich Breitbandausbau schnell genug?
Roitner: Ich würde so sagen: Der Netzausbau ist nicht schnell genug, weil ein leistungsfähiges Telekommunikationsnetz eine systemkritische Infrastruktur ist und die Basis für Innovationen wie Industrie 4.0 liefert. Wenn wir im internationalen Wettbewerb mitspielen wollen, ist ein schneller, sicherer Datentransfer zentral. Wir haben stark dafür lobbyiert, dass die Versteigerungserlöse von den Mobilfunkfrequenzen zum Teil in den Netzausbau investiert werden. Das ist erfreulicherweise auch so umgesetzt worden. Die Ausschreibungen sind angelaufen und müssen nun zügig umgesetzt werden. Die größte Gefahr bestünde darin, dass der Netzausbau dem Budget geopfert wird. Das wäre katastrophal für den Standort.
STANDARD: Ist so etwas im Busch?
Roitner: Nicht direkt. Bei jeder Budgetverhandlung werden die Ministerien dazu angehalten, einzusparen. Das ist ja grundsätzlich richtig, weil der Aufwand, insbesondere in der Bürokratie, überbordend ist. Aus meiner Sicht darf man nicht bei den falschen Dingen sparen: Breitbandausbau, Forschung, Entwicklungsausgaben und Bildung.
STANDARD: Wie hoch sind die Aufwendungen, die Österreich bis 2020 in die sogenannten Anwendungen der digitalen Produktion stecken will? Bei der deutschen Wirtschaft sind es 40 Milliarden Euro – pro Jahr, so eine Studie von PricewaterhouseCoopers.
Roitner: Einer aktuellen Befragung von 100 österreichischen Unternehmen zufolge – ebenfalls von PwC – werden Firmen in den nächsten fünf Jahren Investitionen von durchschnittlich 3,8 Prozent des Jahresumsatzes in Anwendungen der digitalen Produktion aufwenden. Das entspricht rund vier Milliarden Euro für Österreich, und das ist wiederum – Zufall oder nicht – verhältnismäßig genauso viel wie für Deutschland. Die Unternehmen der Elektro- und Elektronikindustrie mit 4,5 Prozent sogar mehr.
STANDARD: Es heißt oft, dass mit dieser Verzahnung der Produktion auch die Industrie wieder mehr nach Europa zurückkehren wird?
Roitner: Insgesamt glaube ich ja, das wird passieren. Umgekehrt wird die Produktion ohne Industrie 4.0 nicht in Europa bleiben. Das ist die große Chance, den internationalen Wettbewerb nicht mehr ausschließlich über Standortkosten führen zu müssen, sondern mit Know-how und Innovation erfolgreich zu sein. (Johanna Ruzicka, 16.4.2016)