Auch wenn die Anschläge diesmal in Brüssel stattfanden, fühlt sich Frankreich direkt betroffen – und das nicht nur, weil man von Lille aus per TGV in 35 Minuten in der belgischen Metropole ist. Und auch nicht nur, weil es die teils gleiche Terrorzelle war wie bei den Attentaten des 13. November in Paris. Vielmehr erklärte der französische Stadtminister Patrick Kanner, in Frankreich gebe es "etwa hundert Molenbeeks".

Die Aussage war wie Öl ins Feuer einer Debatte, die seit den Anschlägen von Toulouse im Jahre 2012 – wo Mohamed Merah sieben Menschen erschoss – nicht mehr zur Ruhe kommt. Sie hat seither verschiedene Stadien durchlaufen. Nach der "Charlie Hebdo"-Attacke von 2015 geißelte Premierminister Manuel Valls – der es als früherer Bürgermeister der Pariser Vorstadt Evry wissen sollte – auf unüblich selbstkritische Art eine "territoriale, soziale und ethnische Apartheid" in den Banlieue-Zonen.

Die Blutnacht des 13. November war dann zu viel des Horrors: Sie führte zur Ausrufung des Notstands und veranlasste auch Valls zu einer Kehrtwende, erklärte er jetzt doch mit verschlossener Miene: "Den Jihadismus erklären zu wollen bedeutet bereits ein wenig, ihn zu entschuldigen."

Auch Muslime trauerten um die Opfer der Anschläge im November in Paris.
Foto: APA/AFP/DOMINIQUE FAGET

Gilles Kepel gegen Olivier Roy

Jetzt, nach Brüssel, findet das terrorversehrte Land zur Debatte zurück. Sie ist grundsätzlich und kontradiktorisch, wie es sich in Paris gehört: Scheinbar unversöhnlich stehen sich die Standpunkte der beiden anerkannten Fachleute Gilles Kepel und Oliver Roy gegenüber.

Kepel (61) lehrt in Paris an der Politikuniversität Sciences Po und glaubt, dass der religiöse Aspekt der Anschläge unterschätzt werde. Schon die Vorstadtkrawalle von 2005 (bei denen in Frankreich über 10.000 Autos ausbrannten) seien richtig aufgeflackert, als eine Tränengasbombe in den Eingang einer Moschee geworfen worden sei, meint der ausgewiesene Kenner der arabischen Kultur. Im gleichen Jahr habe der Syrer Abu Mussab al Suri zum "globalen islamischen Widerstand" aufgerufen und zum Beispiel explizit Satirezeitschriften wie "Charlie Hebdo" als Zielscheiben genannt. Das sei der Startschuss für den neuen Jihadismus gewesen, der in den Pariser Terroranschlägen von 2015 seinen vorläufigen Höhepunkt gefunden habe.

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Gilles Kepel bezichtigt Olivier Roy der "intellektuellen Faulheit".
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Kepel fasst die "religiöse" Dimension weit und schließt in Frankreich auch ein "antikoloniales" Motiv mit ein: Der angeblich so unbedarfte Kleinkriminelle Merah aus dem südfranzösischen Toulouse habe die jüdischen Schulkinder an einem 19. März umgebracht, auf den Tag genau 50 Jahre nach dem Waffenstillstand des Algerienkriegs, der bei französischen Algerien-Nostalgikern noch heute als Tag der Niederlage gilt.

"Islamisierung der Radikalität"

Olivier Roy hält die religiöse Komponente der Anschläge nur für einen Vorwand. Der 67-jährige Hochschuldozent spricht nicht wie Kepel von einer "Radikalisierung des Islam", sondern von einer "Islamisierung der Radikalität". Die jungen Banlieue-Terroristen hätten meist gar keine Ahnung vom Koran oder vom Algerienkrieg (1954 bis 1962); die religiösen oder auch antikolonialen Parolen übernähmen sie jeweils nach ihrer Indoktrinierung durch syrische Anwerber. Sie rauchten, tränken und seien häufig Konvertiten, meint Roy; ihr Nihilismus, auch ihre Gewaltreflexe stünden im krassen Widerspruch zur islamischen Tradition.

Olivier Roy sagt, Kepel vernachlässige die "psychologische Dimension" des Jihad.
Foto: Hermance Triay/Opale/Leemage/laif

"Anfällig für den Terror sind diese Vertreter der zweiten und dritten Einwanderergeneration, weil ihnen ihre Eltern die Werte ihrer Herkunft, darunter die islamische Kultur, gerade nicht vermittelt haben", meint der Professor an der Europäischen Hochschule in Florenz. Das erkläre auch, warum so viele Brüder, also Vertreter der gleichen Familie, zusammen agierten. Diese entwurzelten Jugendlichen erlebten den Generationenkonflikt als eigentlichen "Bruch", weil die Übermittlung nicht mehr funktioniere, sagt Roy, der eigenen Worten zufolge eher mit Psychologen als mit Soziologen zusammenarbeitet – und der deshalb meint, Suizid und Gewaltausübung hätten mehr mit Allmachtsfantasien als mit Religion zu tun.

Vor einem Bruch stehen die beiden Islam-Experten inzwischen selbst: Kepel bezichtigt Roy der intellektuellen "Faulheit" und behauptet, es sei zu einfach, Terror und Radikalisierung vom sozialen Umfeld zu trennen. Die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS), sagte er in der "FAZ", sei schließlich "nicht die Rote-Armee-Fraktion". Roy wiederum bezeichnet seinen Kontrahenten als "aggressiv" und blind gegenüber der "psychologischen Dimension" des Jihad.

Unterschied zwischen angelsächsischem und frankofonem Raum

Aus den USA mischt sich nun eine dritte Stimme ein, die den Horizont über die Pariser Debatte hinaus erweitert. Der private Thinktank Brookings Institution hat eruiert, dass der frankofone Raum mehr Terroristen und Syrien-Jihadisten hervorbringe als etwa Großbritannien. Und warum: "Frankreich und Belgien sind zum Beispiel die beiden einzigen Länder Europas, die den islamischen Schleier aus den Schulen verbannen." Das sei eine Folge der "politischen Kultur" und namentlich des "strikten Laizismus" in Frankreich, meinen die beiden Forscher William McCants und Christopher Meserole.

Der französische Botschafter in den USA, Gérard Araud, entgegnete erbost, es mache "keinen Sinn", die französische Kultur als solche anzuprangern und sozusagen "von Proust auf den IS zu schließen". Schon vor den Anschlägen in Brüssel hatte die progressive Zeitschrift "The New Republic" ihrerseits kritisiert, die Verbotskultur des französischen Staates und der Ausschluss der Religion aus der öffentlichen Sphäre träfen in Frankreich vor allem die Muslime, und zwar sehr direkt.

Französische Muslime beim Gebet in einer Moschee in Fréjus.
Foto: APA/AFP/BORIS HORVAT

Diese Debatte zeugt auch von dem sehr unterschiedlichen Verhältnis von Staat und Religion im angelsächsischen und frankofonen Raum. Der Laizismus Pariser Prägung ist an sich zu konsequent, um als "antiislamisch" abgetan zu werden. So weigern sich die Stewardessen von Air France aus Prinzip, auf den neuen Linienflügen Paris–Teheran ein Kopftuch anzulegen.

Allerdings spielt sich heute auch der rechtsextreme Front National als Hauptverteidiger des französischen "Laizismus" auf. Olivier Roy sieht das Problem darin, dass der Laizismus à la française heute grundsätzlich "antireligiös" sei. Damit entferne er sich von der ursprünglichen Trennung von Kirche und Staat: Sie habe zuerst gar nicht den Ausschluss der Religion aus der öffentlichen Sphäre gemeint, sondern nur die klare Aufgabenteilung.

Banlieue-Beispiel Clichy-sous-Bois

Gilles Kepel vertritt diesbezüglich eine ähnlich kritische Position wie sein Gegenspieler. Er erwähnt den Fall des bekannten Banlieue-Ortes Clichy-sous-Bois: Dort nähmen die Schuldmädchen zwar ihr Kopftuch beim Betreten der Schule folgsam ab und legten es beim Verlassen wieder an; sie verstünden diese Art von Laizismus aber nicht, empfänden ihn gar als antiislamisch. Dasselbe gelte, wenn einzelne Schulkantinen islamisch zubereitete Halal-Gerichte untersagten. "In der Islam-Frage gibt es in Frankreich viele Phobien", meint Kepel. "Vegetariern verbietet man ihr Essen ja auch nicht."

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Ein Wahlplakat der rechten Front National vom vergangenen Jahr: "Suche dir deinen Banlieue aus – Wähle Front!"
Foto: APA/EPA/CHRISTOPHE PETIT TESSON

Weder Kepel noch Roy erwähnen ein prägendes Merkmal der französischen Kultur, das laut "The New Republic" indirekt mit dem Laizismus zusammenhängt: Die gut gemeinte "égalité" (Gleichheit) führe paradoxerweise gerade unter maghrebinischen Jugendlichen zu enormen Frustrationen. Dies nicht so sehr, weil sie als Muslime anvisiert wären; vielmehr werde ihnen "eine Chancengleichheit vorgegaukelt", die bei der realen Job- oder Wohnungssuche Lügen gestraft werde.

Entwicklung eines Hasses auf Frankreich

Valls hat recht, wenn er sagt, dass die Ungleichbehandlung keinen Terrorakt entschuldige. Aber sie erklärt eben doch vieles: Banlieue-Söhne, die im Familienkreis wie kleine Paschas aufgewachsen sind und außerhalb ihrer Ghettos nur auf Ablehnung – heute überdies Polizeikontrollen – stoßen, entwickeln einen regelrechten Hass auf Frankreich. Das zeigen die gellenden Pfeifkonzerte, wenn bei Fußballspielen die Marseillaise abgespielt wird. Kepel stieß bei seinen Feldforschungen in mehreren "Terrorfamilien", wie beispielsweise bei den Merahs, auf das vorrangige Motiv, sich an Frankreich zu rächen.

Roy stellt das nicht in Abrede, auch wenn er in den Banlieue-Terroristen "keine Produkte einer gescheiterten Integration" sieht, sondern deren personelle, familiäre oder generationsbedingte Motive hervorhebt. Das scharfe Expertenduell täuscht vielleicht darüber hinweg, dass sich die beiden Standpunkte eher ergänzen als ausschließen. (Stefan Brändle aus Paris, 17.4.2016)