"Religion im Kontext von Migration ist nicht neu, war aber lange unsichtbar", sagt Theologin Regina Polak von der Universität Wien.

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Die Ankunft schutzsuchender Menschen in Europa sowie der Terror des politischen Islamismus dynamisieren die Frage nach Bedeutung und Rolle von Religion in Europa. Die dabei beobachtbare "Religionisierung" migrationspolitischer Herausforderungen – d.h. die Instrumentalisierung von migrantischer Religion zur "Erklärung" sozialer, ökonomischer und politischer Konflikte und Krisenherde – verlangt nach fundierter interdisziplinärer Forschung von Religion im Kontext von Migration: Welche Rolle spielen "Migration" und "Religion" tatsächlich in den aktuellen Ex- und Inklusionsprozessen europäischer Gesellschaften?

Diese Frage geht weit über die Funktion von Religion für Integrationsprozesse hinaus. Sowohl "Migration" als auch "Religion" werden in Europa als "das Fremde" wahrgenommen. MigrantInnen, Flüchtlinge und religiöse Menschen, erst recht religiöse MigrantInnen und Flüchtlinge stellen Europa damit vor die Frage: Wie wird "das Fremde" wahrgenommen? Wie verhält man sich ihm gegenüber?

Die Mehrheit der MigrantInnen trägt "Religion im Gepäck": 2012 waren 56% der internationalen MigrantInnen innerhalb der Europäischen Union ChristInnen, 27% Muslime, 2% BuddhistInnen und Hindus, 1% Juden und Jüdinnen, 4% gehörten einer anderen und 10% keiner Religion an. Zieht man die Binnenmigration innerhalb der EU ab, bilden ChristInnen mit 42% die knappe Mehrheit, gefolgt von den MuslimInnen mit 39% (vgl. PEW-Forum).

Wieviel Religion darf sein?

Migrantische Religion ist nicht die Hauptursache gesellschaftlicher Probleme. Vielmehr beschleunigt sie religiöse Pluralisierung und spitzt so eine für Europa grundsätzliche Frage zu: Wieviel und welche Religion lässt Europa zu? Wieviel religiöse Verschiedenheit ist möglich? Und vor allem: Darf religiöse Verschiedenheit im öffentlichen Raum wahrnehmbar werden – und wie?

Im Kontext des notwendigen Kampfes gegen religiösen Extremismus drohen diese Fragen verloren zu gehen. Ist jeder Mensch, der seine religiöse Weltsicht gesellschaftlich einbringen möchte, bereits ein Fundamentalist?

Diaspora-Gemeinden aller christlichen Konfessionen finden sich heute in jeder europäischen Großstadt. ChristInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika bilden in London und Hamburg mittlerweile sogar die Mehrheit. Längst findet eine "Ent-Europäisierung" des europäischen Christentums statt. Die wissenschaftliche und politische Aufmerksamkeit für die "zugewanderte" Religion hat allerdings erst nach 9/11 eingesetzt. Infolgedessen konzentrierte sich die Forschung vornehmlich auf muslimische Religiositäten und den Beitrag ihrer Communities zur "Integration". Erst allmählich kommen auch anders-religiöse Gruppierungen mit ihren jeweiligen kulturellen, ethnischen oder nationalen Bezügen in den Blick.

Aktuelle Dynamiken und Perspektiven

Die Antworten auf diese Fragen wirken sich auf die Entwicklung von Religion im Kontext von Migration aus – auch und besonders die politischen Antworten mit ihren (impliziten) Botschaften. Wie Migration (die Einstellung zu) Religion in der Mehrheitsgesellschaft verändert, verändert sich auch migrantische Religion im Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft.

Einige holzschnittartige Dynamiken, die ich derzeit wahrnehme:

Der Islam in Europa erlebt derzeit rasante Transformationsprozesse, die von der Entwicklung eines Islam europäischer Prägung über Radikalisierungen bis zum verschwiegenen Glaubensverlust reichen. Auch die Mehrheit der europäischen Muslime ist von der mörderischen Gewalt des Terrors schockiert. Flüchtlinge kommen nicht zuletzt wegen des islamistischen Terrors nach Europa. Wie sich der Islam in Europa entwickeln wird, hängt freilich auch maßgeblich von der Reaktion der Mehrheitsgesellschaft ab. Sollten sich die Vorstellungen, EuropäerIn und MuslimIn zugleich zu sein, nicht verwirklichen lassen, ist mit Radikalisierungen zu rechnen. Bekenntnis-Zwänge zu eindeutigen Identitäten verschärfen diese Entwicklung.

Für die alteingesessenen europäischen Mehrheitskirchen erweisen sich Flucht und Migration als "Initialzündung" zu neuer Lebendigkeit. Im Engagement für Flüchtlinge entdecken katholische und evangelische Kirche ihr sozialpolitisches Mandat neu und setzen sich für eine gerechte Gesellschaft ein. So hat im Februar 2016 die Deutsche Bischofskonferenz "Leitsätze des kirchlichen Engagements für Flüchtlinge" veröffentlicht. Hilfsorganisationen, Gemeinden und Ordensgemeinschaften arbeiten mit der Zivilgesellschaft zusammen, wobei neue Netzwerke entstehen. Allerdings "erwachen" auch jene rechtsautoritären kirchlichen Gemeinschaften und Gruppen, die die "Islamisierung" Europas beschwören und das "christliche Abendland" retten wollen. Migration stellt auch die mittlerweile in West-Europa heimisch gewordene orthodoxe Kirche vor neue Herausforderungen: bessere interne Zusammenarbeit, Rolle in Europa, Unterstützung der von Armutsmigration betroffenen Herkunftsländer – und die Konfrontation mit der eigenen Geschichte mit "dem" Islam.

Spezieller Aufmerksamkeit bedarf auch die Situation der jüdischen Gemeinden in Europa. Antisemitische Übergriffe nehmen zu – nicht zuletzt durch jenen Antisemitismus, den Migranten und Flüchtlinge aus dem arabischen Raum mitbringen. Das europäische Judentum hat sich – v.a. in Frankreich und Deutschland – durch Migration in den vergangenen Jahrzehnten vollständig verändert. Ungeachtet dieser massiven Zuwanderung führen Überalterung, niedrige Geburtenzahlen und gemischte Ehen allerdings zu einem gravierenden Reduktionsprozess jüdischer Gemeinden, der durch Emigration angesichts des erstarkenden Antisemitismus forciert werden könnte. Hier sind Achtsamkeit, Solidarität und Schutz durch die Mehrheitsgesellschaft gefragt.

Schließlich werden die aktuellen politischen Entwicklungen auf längere Sicht wohl einen neuen "Wachstums-Schub" religionskritischer bis – feindlicher sowie atheistischer Einstellungen mit sich bringen. Leid, Gewalt und Krieg sind seit jeher die wesentlichen Katalysatoren für Glaubens- und Religionsverlust – quer durch alle Religionen. Praktisch wird dies die Forderungen verstärken, Religion in den privaten Raum zu verbannen.

Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft neu verhandeln

Verschwinden wird Religion aber mit Sicherheit nicht. Vielmehr wird Migration diesem Thema neue gesellschaftliche und politische Relevanz verleihen. Neben interdisziplinärer Forschung braucht es daher Kommunikationsräume, in denen Menschen verschiedener religiöser und nicht-religiöser, kultureller und sozialer Herkunft gemeinsam um die Gestaltung einer friedlichen Zukunft ringen.

Die Religion der MigrantInnen bietet die Möglichkeit, sich mit dem Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft auf neue Weise auseinanderzusetzen. Wenn das "religiöse Gepäck" – nicht nur der MigrantInnen – ausgepackt und einer kritischen und selbstkritischen Reflexion ausgesetzt werden kann, können neue religiöse Strukturen und Lebensweisen entstehen, die mit einer säkularen Gesellschaft nicht nur kompatibel sind, sondern diese auch bereichern können. Religion ist ein lebendiges Kommunikationsgeschehen.