Böhmermann stellt unsere Begriffe von Realität auf den Kopf und spielt mit ihnen.

Foto: ZDF/Ben Knabe

"Neo Magazin Royale" vom 24. März 2016: Jan Böhmermann tritt auf die Bühne und regt sich sehr auf. Was ist der Grund seiner riesigen Empörung? Nun, er fühlt sich von Twitter übergangen. Er stemmt empört die Hände in die Hüften. Als "eine absolute Frechheit" bezeichnet er den Umstand, dass der Nachrichtendienst anlässlich seines zehnjährigen Bestehens alle wichtigen Medienmacher des Landes mit einer Torte bedacht habe, nur ihn nicht!

Das Publikum lacht, wie es sich gehört. Jeder "versteht" also irgendwie, was da abläuft, könnte man meinen. Oder doch nicht so ganz? Wissen wir so genau, worüber wir da lachen und was Böhmermann mit dem meint, was er sagt?

Versteckte Intelligenz

Satirische Auftritte zeichnen sich oft durch Mehrdeutigkeit aus. Gerade für die Böhmermann'schen Inszenierungen gilt das noch mehr als für andere. Sie kommen plump und derb daher, aber die in ihnen versteckte Intelligenz offenbart sich in dem Moment, in dem man bemerkt, dass man auch bei näherem Nachdenken gar nicht so genau sagen kann, was von dem Gesagten man nun ernst nehmen darf und was nicht.

Über wen hat Böhmermann sich also eigentlich gerade lustig gemacht? Über die Firma Twitter? Oder ist es nicht eher eine selbstironische Perfomance, die die eigene Eitelkeit auf die Schaufel nimmt? Wie weit ist die Empörung Gag, wie weit ist sie ernst gemeint?

Der Auftritt bleibt so sehr in der Schwebe, dass kaum eine eindeutige Aussage dazu möglich ist. Man lacht, fühlt sich angeregt, ist aber gleichzeitig verwirrt. Vielleicht lacht man auch gerade über die eigene Verwirrung, die das "Normale" aushebelt.

Verwirrung als künstlerische Strategie

März 2015: In der Talkshow von Günther Jauch wird Yanis Varoufakis mit einem Video konfrontiert, in dem er Deutschland den Stinkefinger zeigt. Der griechische Finanzminister behauptet, das Video sei gefälscht. Überraschenderweise eilt ihm Böhmermann zu Hilfe: Er selbst habe das Video gefälscht. "Aber kann und sollte man Böhmermann in diesem Fall trauen? Was ist gefälscht, ein Fake, und was ist die Wahrheit?", fragte damals "Zeit Online".

Böhmermann stellt unsere Begriffe von Realität auf den Kopf und spielt mit ihnen. Eindeutige Parteiergreifung ist indes seine Sache nicht. Auch in diesem Fall wird man sich schwertun zu sagen, wer nun eigentlich das Objekt seines Spotts war, ob Jauch oder Varoufakis.

Alle werden verspottet

Dennoch sucht das Publikum immer wieder solche eindeutigen Aussagen. Während im STANDARD-Forum der eine oder andere in seinem Posting zu dem Schluss kam, Böhmermann sei aufgrund des Erdoğan-Gedichts ganz sicherlich ein "Rechtsradikaler", empören sich die polnischen Medien über das neue Böhmermann-Video ("Be Deutsch"), in dem die Ministerpräsidentin ihres Landes in einer Reihe mit berüchtigten Rechtsradikalen angeprangert werde – eine antirassistische Lesart des Videos, die auch Carolin Ströbele in der "Zeit Online" für die richtige hält.

Wer indes auf die Vielschichtigkeit des Videos ein sorgsameres Auge hat, der wird merken, dass hier alle verspottet werden: die Rechtsradikalen ebenso wie die, die sich für etwas Besseres als sie halten.

Der Pferdefuß der Ironie

Missverständnisse in Sachen Ironie haben eine altehrwürdige Tradition in der Literaturgeschichte. Es ist bekannt, dass die Leser von Heines religiösen Gedichten oft die satirischen Vorzeichen übersehen und sie ernst genommen haben.

Man kann sich freilich angesichts der vielen möglichen Missverständnisse die Frage stellen, inwieweit persistierende Ironie überhaupt ein legitimes künstlerisches Mittel darstellt. Tatsächlich scheint mir, dass das absichtlich doppelt und dreifach dick aufgetragene Erdoğan-Gedicht Böhmermanns, das durch seine schrankenlosen Übertreibungen eigentlich deutlich macht, dass es sich bloß um eine bewusst gespielte Pose handelt, dennoch leicht missbrauchbar ist.

Dieses Urteil steht jedoch keineswegs einem von zwei involvierten Politikern bestellten Gericht, sondern höchstens einer Diskussionsrunde von Literaturkritikern zu. Ganz sicher aber fällt ein falsches Urteil derjenige, der die komplexe Vielschichtigkeit künstlerischer Produkte nicht in Betracht zieht. (Ortwin Rosner, 18.4.2016)