Prag – Sparta schien die Bohemians mit Haut und Haaren zum Frühstück verspeisen zu wollen. Und das, obwohl es schon früher Abend war am Sonntag, beim 129. Derby der Prager Lokalrivalen. Überraschen konnte das nicht unbedingt, denn mit Sparta war der regierende Vizemeister im Stadion Ďolíček der Bohemians zu Gast. Die Blau-Gelb-Roten liegen in der Synot-Liga auf Platz zwei, was für den Rekordmeister trotzdem eine Enttäuschung darstellt. Die Grün-Weißen dagegen haben als Elfter noch Kontakt zu den Abstiegsrängen.

Das Ďolíček also. Seit 1932 spielen die Bohemians dort, der Name wurde von einem noch älteren Platz quasi transferiert und beschreibt dessen topografische Eigenschaft: die" kleine Mulde". Oder, wenn man will: das Gruberl. Dorthin, in den Stadteil Vršovice, gondelt man passenderweise mit einem Bahnderl, der Tramway Nummer 7, Haltestelle Bohemians. Es ist ein altvaterischer Fußballplatz, der den Geist des letzten Jahrhunderts atmet. Nach diversen Um- und Rückbauten passen heute noch rund 7.000 Menschen hinein. Neben einer verwegen steilen Haupttribüne gibt es hinter einem Goal die Stahlrohrheimat für den harten Kern und auf der Gegengeraden ein paar Reihen zur rechten und schlechten Behausung des Auswärtsanhangs.

Australien

Die Bohemians standen immer im Schatten der großen zwei, Sparta und Slavia. Kellner Jakub aus dem Kurzfrist-Stammlokal des STANDARD auf der Kleinseite erklärt: Der neutrale Prager Fußballinteressierte kann sich am ehesten für die Grün-Weißen erwärmen. Gegründet 1905 als AFK Vršovice, sollte eine Tournee nach Australien die Identität des Klubs bis heute prägen. Die Einladung dazu war 1927 eigentlich an die tschechoslowakische Nationalmannschaft ergangen, welche die unwägbare Reise ans andere Ende der Welt jedoch nicht antreten wollte. Die abenteuerlustigen Herren aus Vršovice meldeten sich freiwillig, warum auch immer. 14 Feldspieler und zwei geliehene Goalies schifften sich in Neapel ein, um ein gutes Monat später wieder Land zu betreten. 20 Matches, 15 davon siegreich, bestritten die Prager.

Frühe Public Relations, und wohl auch, um es den Gastgebern einfacher zu machen – wer kann Vršovice schon unfallfrei herausbringen –, firmierten die Touristen unter dem Markennamen "Bohemians". Das Känguru im Klubwappen geht auf zwei lebendige Beuteltiere zurück, die den Pragern vom Gouverneur Queenslands bei der Ankunft verehrt wurden. Die Exemplare waren für den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Masaryk bestimmt, welcher sie sich aber dann doch nicht in den Vorgarten stellte, sondern diskret an den Prager Tiergarten weiterreichte.

Die Bohemians brachten die meiste Zeit als Mittelständler in der ersten Liga zu. 1983 passierte eine Meisterschaft, es sollte bis dato der einzige Titel bleiben. Am Ende jenes Jahrzehnts begann es dann ernsthaft zu kriseln. Eine Insolvenz im Jahr 2005 bedrohte die Existenz des Vereins, ein Namensstreit führte dazu, dass eine Zeitlang gar zwei Bohemians existierten. Eine schwejkeske Situation.

Foto: Michael Robausch
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Verlebt, aber grundsympathisch: das Bohemians-Stadion.
Foto: Michael Robausch

Ganz anders Sparta. Der 33-fache Meister beherrschte im Duett mit Slavia quasi seit jeher die ballesterische Szene in Tschechien (und davor in der Tschechoslowakei). Ausnahme waren die 1960er-Jahre, als den Traditionsvereinen der vom Regime protegierte Armeesportklub Dukla vorübergehend den Rang ablief. Železná Sparta, die Eisernen, nannte man hochachtungsvoll jenes Team, das zwischen 1919 und 1925 in 58 Partien nur einmal verlor. Dreimal triumphierte man im Mitropacup (1927, 1935, 1964), heuer endete Spartas bemerkenswerter Lauf in der Europa League erst vor wenigen Tagen im Viertelfinale gegen ein glänzendes Villarreal. Davor hatte man sich immerhin Lazio Rom auf die Abschussliste geschrieben. Die Derby-Bilanz ist eindeutig, 68 Siegen Spartas (Kadermarktwert laut transfermarkt.de 28 Millionen Euro) stehen gerade 32 der Bohemians (Kadermarktwert sechs Millionen) gegenüber.

Zurück also zum Frühstück. Mit feiner Klinge dominierte der Gast das Geschehen von Beginn an in erdrückender Weise. Die Bohemians grätschten, rutschten, blockten immerhin aufopferungsvoll mit allen zulässigen Körperteilen. Man wusste nicht recht, wie es zugegangen war, dass die Heimischen plötzlich führten. Tomáš Čížek, ein gefinkelter Mittelfeldspieler, hatte ein Solo-Start-up in die Wege geleitet, der Uruguayer Rafael Acosta eingebaut. Die Mulde bebte. Ein paar Reihen vor dem STANDARD wird auch Antonín Panenka erfreut gewesen sein. Der Herr Präsident passt in seiner bodenständigen Bescheidenheit bestens zu den familiären Bohemians. Verblüffend auch, dass Sparta über eine halbe Stunde brauchte, um auszugleichen (David Lafata, 35.). Eine erste Halbzeit wie eine schiefe Ebene war das.

Unwiederbringlich

Der Unterlass machte die Gedanken schweifen. Froh muss man sein um jeden Fußballplatz wie das Gruberl. Hier ist die Entwicklung noch nicht unwiederbringlich in Richtung Sportbusiness fortgeschritten, hier sitzen die Leute nach dem Match noch auf Holzbankerln bei der Bratwurst, deren Dünste einem auf dem Gelände ohnehin von überallher entgegenwehen. Das Eintauchen in das Lokalkolorit, mit dem im Ďolíček jede Pore der verlebten Mauern gesättigt scheint, es gelingt mühelos. Eine Arena würde zu den Bohemians nicht passen – und passt ja eigentlich zu keinem Fußballverein so richtig. Modelle für einen Neubau gibt es, doch es ist nicht vorstellbar, wie die Prager einen solchen stemmen sollten. Vielleicht ist das noch ein Glück.

Nach der Pause wurde alles noch besser. Die Bohemians machten jetzt mit. Beide Mannschaften waren grundsätzlich einer spielerischen Lösung verpflichtet, nur eben in unterschiedlicher, ja konträrer Ausprägung. Sparta als ballbesitzorientierte Elf, die Bohemians auf den blitzschnellen Konter setzend, das passte hervorragend zusammen.

Die Souveränität des Favoriten welkte dahin angesichts der robusten Zweikampfführung nunmehr hellwacher Gegner. Mag sein, eine Traineransprache hat hier ihren Beitrag geleistet. Womit der nächste Rapid-Bezug ansteht: Roman Pivarník betreut die Bohemians, von 1994 bis 1997 absolvierte er 59 Spiele in Hütteldorf, gewann Pokal und Meisterschaft. Der Mittelfeldmann war Teil jener Mannschaft, die 1996 das Endspiel des Europapokals der Pokalsieger erreichte.

Die man nicht schießt

Wille und Engagement verschafften seinen Bohemians jetzt Vorteile, ein Abstauber des Verteidigers Michal Smid (50.) zum 2:1 war die Konsequenz dieser Entwicklung. Das aggressive, maximal verschlankte Direktspiel der Grün-Weißen schmeckte den Spartanern nicht. Das Frühstück hatte begonnen, sich zu wehren. Herrliche Stimmung im Ďolíček, geradezu heißblütig ging es her. Beeindruckend, wie laut ein paar Tausend werden können, wenn sie denn wollen. Klokani do toho, Hoppauf, Kängurus!

Die Bohemians vergaben zwei Sitzer, eine Stunde war vorbei. Und da man die bekommt, welche man nicht schießt, glich Bořek Dočkal, Spartas rechter Flügel, zum zweiten Mal aus (63.). Des Messers Schneide glänzte nun, und da die Stimmung ein flatterhaftes Ding ist, gab sie sich dem explosiven Moment hin. Etwas, das verdammt nach tschechischen schwarzen Säuen klang, brach aus der aufgeladenen Menge hervor. Ein einsamer Bierbecher segelte nach umstrittenen Entscheidungen gegen die Klokani.

Das Geschehen steuerte unzweifelhaft auf den Siedepunkt zu: Čížek, der bevorzugt im Verbund mit dem hochveranlagten, jedoch der Fallsucht nicht ganz abholden Kolumbianer Jhon Edison Mosquera Rebolledo formidabel Dampf machte, finalisierte einen weiteren Blitzkonter mit einem Stangentreffer. Noch in der Schlussminute verplemperten die Kängurus ein Riesending. Frust, mehr Becher, einer davon in irrationaler Weise unter das Tribünendach abhebend. Ein armer Einbeiniger etwas weiter davor bedankte sich lautstark über den auf ihn niedergehenden süffigen Regen. Schluss.

Drei Punkte wären den Bohemians sicher zupassgekommen. Trotzdem feierten die Anhänger ihre Kängurus ausführlich. Sparta hingegen wird heuer wohl wie schon im Vorjahr Viktoria Pilsen den Vortritt lassen müssen, elf Punkte fehlen bereits auf den Tabellenführer. DER STANDARD jedenfalls hat eine Bombenpartie erlebt. Da gibt es nichts. (Michael Robausch, 19.4.2016)

Zusammenfassung der Partie.
SYNOT Liga