Als Länderbeobachter, optimistisch gestimmt, läuft man Gefahr, zu spät auf das Abflachen von Wachstumskurven zu reagieren. Das passiert dem britischen Economist genauso wie uns Akademikern, wenn wir einen Länderreport herausgeben.
Noch immer liegt auf meinem Schreibtisch die Ausgabe des Economist vom 14. November 2009, auf deren Cover die berühmte Christus-Statue auf Rios Corcovado wie eine Rakete hochschießt. "Brazil takes off" schmetterte der begleitende Titel. Erst Anfang dieses Jahres, nach zahlreichen Einzelermahnungen, kam die Axt der Selbstkritik, wobei die Überschrift "Brazil's fall" Dilma Rousseffs schmerzverzerrtes Gesicht einfasst.
Damit war sowohl der drohende Crash von Brasiliens Wirtschaft gemeint wie auch das Schicksal von Präsidentin Rousseff, deren politisches Überleben auf dem Spiel steht. Tragisch für Brasilien, das vier Monate vor den Olympischen Spielen vor Optimismus bersten sollte.
Inspiriert von der allgemeinen Brasilien-Euphorie, erprobten wir – meine Kollegin Ursula Prutsch von der LM-Universität München und ich – uns seinerzeit an einer Analyse Brasiliens unter dem Motto "Brasilien: Aufstieg und Aufruhr", erarbeitet bereits in der Abschwungphase der brasilianischen Situation, weswegen wir einige Warnsignale aufstellten, darunter der Text des brasilianischen Autors Luiz Ruffato, der sein Land als hässlichen Ort einer rassistisch eingefärbten Gewaltkultur geißelte.
Letztlich widerstanden aber auch wir nicht der Verführung eines optimistischen Szenarios, vor allem wegen der außenpolitischen Erfolge Brasiliens im BRIC-Konsortium, damit von der "Unterentwicklung" zur "Entwicklungsmacht" aufsteigend.
Heute liest sich vieles anders. Zur dräuenden Wirtschaftskatastrophe gesellt sich ein politisches Hickhack, das die Präsidentin zu Fall bringen könnte, so wie es 1992 über ein Impeachment Ferdinand Collor, dem ersten zivilen Präsidenten nach der Militärdiktatur, passiert war.
In der Selbstkritik des marktliberalen Economist überwiegen bissige Kommentare über Brasiliens wuchernde Staatsbürokratie sowie das Abhandeln finanzieller und ökonomischer Daten, die um 2014 vom Positiven ins Negative kippten und heute einen Kollaps denkbar machen. Wir vom Brasilien-Buch akzentuierten hingegen die sozialpolitischen Ereignisse. Zusammen kommen wir auf diese Kernaussagen:
- Erstens – der (nicht vorhersehbare) Verfall der Exportpreise für Energie, Erze, Soja und andere Agrargüter. Brasiliens kumulierter Commodity Index brach um ein gutes Drittel ein. Damit fehlen dem Finanzminister die Gelder für ein massives konjunkturelles Gegensteuern. Brasiliens Kassen trocknen aus. An das Anbohren der angeblich gigantischen Erdölvorräte offshore im Atlantik, in fünf- bis sechstausend Meter Tiefe, ist vorerst überhaupt nicht zu denken.
- Zweitens – wir alle hätten uns an den zynischen Satz vom "voo de galinha", dem Hühnerflug, halten sollen. So wie ein Hendl mit ein paar Flügelschlägen hochkommt, aber dann bald wieder auf dem Boden hockt, machte es dekadenlang auch Brasiliens Wirtschaft: einmal hoch, dann wieder runter! Auf einer Tagung, in den besten Momenten des brasilianischen Booms, wollte ich vorlaut diese Formel außer Kraft setzen. Brasiliens Botschafter lächelte listig. Ich weiß jetzt, warum.
- Drittens – und damit zusammenhängend – als Mär erweist sich die These vom angeblichen Aufstieg von rund 40 Millionen Brasilianern aus der Armut in eine "Mittelklasse". In der Tat wurde in den vergangenen zwölf Jahren im Rahmen kreativer Sozialprogramme viel Armut gelindert. Allein, daraus entstand keine "untere Mittelklasse", sondern Arme hatten plötzlich Geld in der Hand, weil sie bei Banken Privatkonten und damit auch Kreditkarten eröffnen durften. Ein Konsumrausch (mit Flachbildfernsehern im Zentrum) war die Folge. Heute, bei wieder anziehender Arbeitslosigkeit und Inflation, stocken die Ratenzahlungen: 55 Millionen Kreditkarten flattern derzeit im Minus. Viele angezahlte Güter sind wieder futsch. Das Geld ist auch weg. Arme sind wieder arm.
- Viertens – Brasilien gilt als Märchenland der Korruption, womit sich die politische Elite mit ihrem Parteienwirrwarr eindeckt. Dem widerstand auch nicht die regierende PT-Arbeiterpartei von Luiz Inácio da Silva (1982 verdientermaßen Träger eines von Kreiskys Menschenrechtspreisen) und Dilma Rousseff. Neu ist (wie etwa in Italien) das Nachwachsen einer jungen, gut ausgebildeten Juristengeneration, die Korruption nicht mehr als Schicksal Brasiliens hinnehmen will. Erst die Aufdeckungen hartnäckiger Ankläger wie Sérgio Moro oder Delton Dallagnol, vor allem in Zusammenhang mit den Malversationen im staatlichen Energiekonzern Petrobras, trieben nicht nur die Regierung, sondern die gesamte Politik in die Enge. Selbst wenn Dilma Rousseff zurücktreten wollte oder müsste – alle verfassungsgemäß vorgesehenen Ersatzmänner stecken im selben Morast.
- Fünftens – und vielleicht entscheidend – Brasiliens so weltoffene und elegante Oligarchie hasst abgrundtief die sozialistischen Regierungen seit 2003, "Lula" und Rousseff, deren Sozialprogramme vor allem den afrobrasilianischen Unterschichten nützten. In der derzeitigen Krise sieht diese (militärisch gut vernetzte) Oberschicht die Gelegenheit, im zähen Klassenkampf die taktischen Gewinne der Sozialisten zu eliminieren und auf die ausbeuteri-sche Ausgangsposition zurückzudrängen.(Gerhard Drekonja-Kornat, 18.4.2016)