Wien – Den eingeschüchterten Riesen hatte man in der Vorstellung schon im Theseustempel hocken gesehen: Unfähig aufzustehen, ohne mit seinem massigen Körper das Tonnengewölbe zum Zerbröseln zu bringen, hätte dieser Gulliver unter Zwergen uns hinter seinen zum Schutz erhobenen Armen aus großen, ängstlichen Augen beargwöhnt, dieser scheue Koloss. So wie 2001, als der knapp fünf Meter hohe, 500 Kilo schwere Boy von Bildhauer Ron Mueck im Arsenal der Biennale Venedig kauerte. So schön die Idee vom hilflosen Giganten in jenem dem heldenhaften Kentaurenbesieger Theseus gewidmeten Tempelbau im Volksgarten auch wäre, es hätte der Zauberei bedurft – oder zumindest des Abhebens des Daches –, um die Arbeit dorthin zu verfrachten.

Aber sobald man am Dienstag einen Blick in die von der Sonne hell erleuchtete Architektur geworfen hatte, war diese kleine Träumerei gänzlich vergessen. Dort unter der prunkvollen Decke des klassizistischen Baus entdeckte man ein gestrandetes Boot. Und mitten in dem alten Kahn, an dem der Zahn der Zeit schon recht deutlich genagt hat, eine kleine Gestalt, winzig geradezu, nackt und mit stumpfem, leerem, resignativem Blick: Man in a Boat (2002).

Ein Schiffbrüchiger, der nirgends mehr ankommen wird. Ohne Ruder ist sein obendrein aufgebocktes Boot nicht mehr als eine dümpelnde Nussschale. Ein existenzieller Zustand des Verlorenseins, in dem die verschränkten Arme sich wie eine letzte widerständige Geste ausmachen.

Im Gegensatz zur Malerei, die dank ihrer Schauseite manche Geheimnisse zu bewahren vermag, erspart uns die illusionistische Skulptur nichts – alles kommt ans Licht: Ron Mueck, "Man in a Boat" (2002).
Foto: KHM-Museumsverband

Genau fünf Jahre nachdem Ugo Rondinone hier seinen Olivenbaum platziert hat – es war die erste dieser intensiven Gegenwartskunst-Kontemplationen, die das Kunsthistorische Museum anstiftet –, ist die aktuelle Inszenierung Ron Mueck gewidmet. Dass das Werk so unmittelbar Assoziationen mit den jetzigen Dramen im Mittelmeer wachruft, war jedoch bei der Auswahl des Werks 2014 nicht abzusehen.

Der 1958 in Melbourne geborene, seit 1983 in London, zuletzt aber sehr zurückgezogen auf der Isle of Wight arbeitende Mueck ist ein Künstler, dessen Karriere erst dann rasant Fahrt aufnahm, als er Charles Saatchi begegnete. Denn zunächst wirkte der Sohn deutscher Spielzeugmacher, der sich bereits als Kind mit bildnerischen Techniken vertraut gemacht hatte, als Puppenmacher für Jim Henson, arbeitete im Team für die Sesamstraße und die Muppet Show oder kreierte Zottelwesen für den Film Labyrinth. Als er 1996 für seine Schwiegermutter, die Malerin Paula Rego, eine seiner stilistisch dem Hyperrealismus zuzuordnenden Figuren aus Fiberglas und Silikon, einen Pinocchio, fertigte, wurde Saatchi auf ihn aufmerksam und gab vier Werke in Auftrag:

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Mit Dead Dad in der für lange Schlangen vor der Londoner Royal Academy sorgenden Ausstellung Sensation – unter anderem mit Jake & Dinos Chapman, Sarah Lucas, Damien Hirst – gelang ihm 1997 der Durchbruch.

Heute zählt Ron Mueck zu jenen Vertretern aus der Riege der damals als "Young British Artists" (YBA) Gelabelten, deren Arbeiten bei Auktionen Preise von über einer Millionen Euro erzielen. Nun künstlerisch etabliert zu sein, ermöglicht Mueck Unabhängigkeit, ja es erlaubt ihm – einem stillen, zurückgezogenen Menschen, von dem nur ein einziges Interview existieren soll –, nun wieder alleine, ohne Assistenten zu arbeiten.

Foto: KHM-Museumsverband

So wie bei Boy oder Man in a Boat war auch die Figur des toten Vaters, Dead Dad, alles andere als maßstabsgetreu. Man schenke dem vom "Normalen" Abweichenden eine ganz andere Form der Beachtung, begründete Mueck diese Größenverschiebungen einmal. Trotzdem verleiht er seinen Skulpturen, von denen es bis dato aufgrund des langsamen Herstellungsprozesses ganze 43 gibt, eine glaubwürdige Präsenz – gilt es doch, Fragen der Conditio humana, Geburt, Tod, Liebe, zu verhandeln.

Diese neugierige Annäherung an etwas zugleich Vertrautes wie auch Verstörendes konnte man 2012 im Lentos in der Ausstellung Der nackte Mann vollziehen: So klein wie ein Baby, eingerollt in Decken, zeigte Mueck den Mann als verletzliches Wesen. Fast glaubte man damals, das kleine Bündel atmen zu hören. Ein anrührendes Objekt, so wie drei Jahre später ebendort Mother and Child (2001–2003) in der Schau Rabenmütter. Die nicht viel mehr als 80 Zentimeter messende Figur der frischgebackenen Mutter mit dem noch nicht abgenabelten Neugeborenen auf dem Bauch trieb einem Tränen der Rührung in die Augen.

Foto: KHM-Museumsverband

Der im Theseustempel gestrandete Man in a Boat ist eine Arbeit, die im Zusammenhang mit einer zweijährigen Künstler-Residency (2000–2002) an der Londoner National Gallery entstanden ist: Mueck nutzte diese zum intensiven Studium der alten Meister. Er tat das aber sicher auch schon vorher: So könnte etwa Giambattista Tiepolos An Allegory with Venus and Time (1754–1758) aus der Sammlung der National Gallery durchaus die Inspiration für Muecks gelangweilt-melancholischen Engel (1997) gewesen sein, dem auf einem Hocker sitzend der Kopf schwer wird.

Studiert hat er im Londonder Museum aber auch Velázquez' Maria Immaculata: Das Gemälde zeigt unter anderem einen Globus, auf dem man ein Boot erkennen kann. Ein Schiffchen, mit dem man nicht nur Richtung Tod und ins Jenseits schippern kann, sondern das symbolisch auch für Geburt und Mutterschaft stehen kann. Das gäbe Man in a Boat auch weniger trübsinnige Deutungsmöglichkeiten.

Das Bestechende an Ron Muecks Arbeiten ist freilich auch ihr Grad realistischer Perfektion, jener an die Tradition von Duane Hanson und John de Andrea anschließende Hyperrealismus. Im Theseustempel lässt sich vorzüglich Muecks Meisterschaft in der Darstellung von Haut, ihrer Farbigkeit und Stofflichkeit bestaunen. Obwohl es ein bisschen befremdlich ist, ja obwohl man sich fast ein wenig schämt, den in seiner Existenz Bedrohten so ausgiebig zu betrachten und sogar die Linien auf seinen Fußsohlen oder seine Körperbehaarung zu studieren. (Wegen der Verankerung der Härchen ist das Objekt im Übrigen auch komplett aus Silikon und nicht aus Fiberglas gefertigt.)

Foto: KHM-Museumsverband

Nicht allein wegen der menschlich grundlegenden Themen, sondern auch, weil man dem Objekt, das belebt scheint, so nahe kommt – im richtigen Leben hätte man die Intimitätsgrenze längst überschritten –, wird man still und demütig. Ein Gefühl, das einen zuletzt im Leopold-Museum überkam, wo aktuell die Arbeiten der flämischen Bildhauerin Berlinde de Bruyckere zu sehen sind. De Bruyckeres Körper sind zwar fragmentiert und daher eher surreale Stellvertreter existenzieller Fragen. Aber auch sie, die ursprünglich von der Malerei kommt, ist in der Darstellung des Fleisches dem Illusionismus verpflichtet, studierte, um die Farbigkeit der (toten) Haut zu treffen, alte Meister wie Caravaggio oder Luca Giordano.

Bei beiden Künstlern darf man sich an die polychrom gefassten spanischen Holzskulpturen aus dem 17. Jahrhundert erinnern: an Pedro de Menas (1628–1688) Heilige der Passionsgeschichte, an seinen Christus mit Dornenkrone und blau unterlaufenem Auge, dem das Blut auf die Schultern tropft oder an seine Mater dolorosa mit Tränen aus Glas. Nicht selten waren es zu jener Zeit die Maler, die diesen Figuren den letzten illusionistischen Anstrich gaben, die diese Gegenmodelle zu den idealisierten marmornen Renaissance-Heroen mit Farbe vollendeten.

Diese Figuren der Passion Christi vermochten die Betrachter zu schockieren, denn im Gegensatz zur Malerei, die nur eine Perspektive repräsentiert, die also manches im Schatten und im Geheimen belassen kann, zeigt die illusionistische Skulptur alles. Wir entkommen ihr nicht. Das ist vielleicht das Bemerkenswerte an Arbeiten von Mueck – und von de Bruyckere: Man kann sich ihnen nicht entziehen, sie zwingen regelrecht hinzuschauen – und sie ersparen uns nichts. Ein intensives Erlebnis. (Anne Katrin Feßler, 20.4.2016)