Hält die Verringerung der Zahl von Asylanträgen für unbedingt nötig, obwohl nicht klar sei, ob die geplante Sonderbestimmung den gewünschten Effekt haben wird: Bernd-Christian Funk.

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Für Funk wäre es nicht einfacher, die Dublin-III-Verordnung konsequent zu nutzen, wie es die FPÖ fordert.

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Wien – Im "Obergrenzen"-Gutachten im Auftrag der Bundesregierung, das er zusammen mit dem Europarechtsexperten Walter Obwexer verfasste, kam der Verfassungsrechtsexperte Bernd-Christian Funk zu der Schlussfolgerung, dass der Zugang von Flüchtlingen zu Asylverfahren in Österreich eingeschränkt werden könne, ohne gegen geltendes Verfassungs-, EU- und Völkerrecht zu verstoßen.

Mit der Asylnovelle, die kommenden Montag im parlamentarischen Innenausschuss beschlossen werden soll, soll das nun umgesetzt werden – zum Missfallen, ja Entsetzen von Flüchtlingshilfegruppen und Menschenrechtsexperten.

Im ausführlichen STANDARD-Interview bleibt Funk dabei: Der nationale Alleingang sei trotz Unsicherheiten über seine Wirksamkeit nötig, da angesichts der fortgesetzten starken Fluchtbewegung nach Europa keine solidarische Vorgangsweise der EU-Mitgliedstaaten in Sicht sei.

STANDARD: Im Streit um das neue Asylgesetz sind die Positionen unvereinbar. Auf Grundlage Ihres und Walter Obwexers Gutachtens betont die Regierung, dass die Neuerungen samt Sonderbestimmung unverzichtbar seien. Menschenrechtsexperten und NGOs widersprechen vehement. Was sagen Sie zu diesem Gegensatz?

Funk: In der Kritik geht einiges durcheinander. Oft mischen sich die juristische Argumentation, rechtspolitische Beurteilung samt ideologischen Kommentaren sowie manches an Polemik.

STANDARD: Wo siedeln Sie die Kritik ausgewiesener Menschenrechtsexperten wie Manfred Nowak an?

Funk: Ich habe sein Statement im "ZiB 2"-Interview gesehen. Der Vorwurf der "Panikmache" lag jenseits juristischer Argumentation. In der juristischen Auseinandersetzung geht es nicht um solche Begriffe, auch nicht um "Notverordnung", "Notstand" oder gar "Aushebelung des Asylrechts". Sachlicher Ansatzpunkt ist Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV). Dieser besagt, dass die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für das Aufrechterhalten öffentlicher Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit unberührt bleibt. Das bedeutet, dass Regelungen des AEUV und des darauf beruhenden Sekundärrechts betreffend Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung unter Wahrung grundrechtlicher Bindungen durchbrochen werden können.

STANDARD: Juristisch argumentiert kann die für den Flüchtlingsschutz zentrale Regelung, dass jedem Asylantrag ein Verfahren folgen muss, gebrochen werden – denn sie gehört zum Sekundärrecht. Ist die Aufregung nicht verständlich?

Funk: Das Verbot kollektiver Abschiebungen erfordert Einzelfallprüfungen. Bei der Verfahrensgestaltung gibt es Spielräume. Sie werden auch durch Artikel 72 AEUV ermöglicht. Dazu gehören vor allem das Gebot des Non-Refoulement (Anm: Nicht-Zurückweisung), das auch bei drohenden Kettenabschiebungen, bei Zurück- oder Ausweisung in einen Staat mit am Boden liegendem Asylsystem zu beachten ist. Familienzusammenhalt und Kinderrechte müssen gewahrt bleiben, Rechtsschutz darf nicht vorenthalten werden. Das Gesetzesvorhaben setzt sich mit diesen Erfordernissen auseinander, über die Frage, ob es ihnen gerecht wird, kann man reden.

STANDARD: Kritiker wenden ein, dass es keine Judikatur des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu Artikel 72 gibt. Trägt der Artikel eine solche Einschränkung des Flüchtlingsschutzes dennoch?

Funk: Aus dem Fehlen einschlägiger Rechtsprechung ist für die Frage der Anwendbarkeit des Artikels 72 nichts zu gewinnen. Auch ohne EuGH-Judikatur gilt, dass er genau auf Situationen eines Massenandranges von Schutzsuchenden anwendbar ist, wenn die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit entsprechende Maßnahmen – seien sie auch präventiv – erfordern. Dass eine solche Situation besteht oder bevorsteht, ist anhand überprüfbarer Tatsachen zu belegen.

STANDARD: Auffallend ist die Eile, mit der die Sonderbestimmung beschlossen werden soll. Begutachtung war ursprünglich keine geplant. Wie finden Sie das?

Funk: Eine Begutachtung soll es geben – und gibt es ja jetzt auch, wenn auch leider nur in kurzer Frist. Doch die derzeitigen Perspektiven verlangen eine gewisse Zügigkeit. Die Belastung mit Asylwünschen könnte in kurzer Zeit wieder stark steigen. Man muss rechtzeitig Vorsorge treffen, um die Probleme zu bewältigen.

STANDARD: Die Sonderbestimmung soll aber nicht nur im Akutfall wirken, sondern bereits bei negativer Prognose. Dann soll eine die Asylverfahren stark einschränkende Verordnung erlassen werden. Wie sicher muss die Prognose sein?

Funk: Zahlenmäßig festlegbar ist dies aus jetziger Perspektive nicht – weder ob, noch wann es geschieht. Das hängt sehr von der Situation in den Nachbarstaaten sowie an den EU-Außengrenzen ab. Richtschnur ist ausschließlich die Tragfähigkeit des Systems.

STANDARD: Das System steht laut den Erläuterungen zur Novelle schon jetzt an der Schwelle zur Überlastung. Ist das wirklich eine seriöse Beurteilung der Lage?

Funk: Natürlich kann man behaupten, dass eine Überlastung weder besteht noch bevorsteht. Nur: Wo ist der Beweis?

STANDARD: Nehmen wir die Flüchtlingsunterbringung. Laut Kilian Kleinschmidt, der die Regierung in dieser Frage berät, gibt es in Österreich eine Vielzahl von Leichtbaumodellen, die man errichten könnte. Nur habe das niemand getan. Sind nicht auch derlei Versäumnisse Teil des Problems?

Funk: Das kann schon sein. Aber ist es wirklich nötig, alle Möglichkeiten auszureizen, bevor man sagt, es ist für das System zu viel?

STANDARD: Wer überprüft, ob das System die Asylantragszahlen nicht mehr tragen kann?

Funk: Zunächst muss das die Bundesregierung in Übereinstimmung mit dem Hauptausschuss des Nationalrats tun. Das Parlament ist also eingebunden – was Vergleiche mit der Ausschaltung des Parlaments 1933 von vornherein ad absurdum führt. Eine einmal beschlossene Verordnung unterliegt, ebenso wie ihre gesetzlichen Grundlagen, der nachprüfenden Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof, durch europäische Gerichte und Instanzen: EuGH, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, EU-Kommission. Es ist nicht gerechtfertigt, aufgrund der Sonderbestimmung auf mögliche Angriffe auf andere Grundrechte zu schließen.

STANDARD: Amnesty-Generalsekretär Heinz Patzelt befürchtete das im STANDARD-Gespräch vor allem, weil eine Stimmung entstehen könnte, in der weitere Aushöhlungspläne möglich sind. Schließen Sie das aus?

Funk: Gegenfrage: Sind solche Befürchtungen ein Grund, um sich nicht damit auseinanderzusetzen, ob die geplanten Maßnahmen juristisch und in weiterer Folge auch politisch legitimierbar sind?

STANDARD: Was hilft das Flüchtlingen, die künftig an der Grenze abgewiesen werden – obwohl viele von ihnen laut derzeitiger asylbehördlicher und -gerichtlicher Praxis Schutz zuerkannt bekommen?

Funk: Gegenfrage: Ist Österreich in der Lage, mit dieser Herausforderung zurechtzukommen, wenn es keine Möglichkeit gibt, den Zustrom zu kontrollieren? Im Wesentlichen würde das darauf hinauslaufen, dass Österreich diese Aufgabe allein bewältigen müsste.

STANDARD: Gegenfrage: Ist es nicht wahrscheinlich, dass andere Staaten dem österreichischen Beispiel folgen, sodass sich der Flüchtlingsschutz allgemein verringert?

Funk: Möglich, aber was ist die Alternative? Es ist nicht damit zu rechnen, dass das europäische Asylsystem kurz- oder mittelfristig in Ordnung kommt, dass Solidarität herrscht, die Flüchtlinge verteilt werden und an den Außengrenzen kontrolliert wird; insofern ist das EU-Asylsystem kollabiert.

STANDARD: Immerhin wendet Österreich die Dublin-III-Verordnung an, laut der jener Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem ein Flüchtling die EU betritt. Wäre es nicht einfacher, Dublin konsequent zu nutzen, wie es die FPÖ will?

Funk: Nein, weil dann weiter tausende Menschen nach Österreich strömen würden, die irgendwie versorgt werden müssen – und man viele nicht rückschieben könnte, etwa nach Ungarn.

STANDARD: Das kann auch nach Inkrafttreten der Sonderregelung geschehen: Flüchtlinge, die nicht sagen, über welchen Staat sie nach Österreich eingereist sind, kann man auch dann nicht zurückschieben.

Funk: Diese Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen. Ob die Sonderregelung den gewünschten Effekt hat, lässt sich kaum prognostizieren. Aber reicht das aus, um sich nicht vorzubereiten?