Hundertfünfunddreißig Ökonomen haben in einem offenen Brief an die Bildungsministerin gefordert, ein Schulbuch aus dem Verkehr zu ziehen, weil mein Konterfei in einer "Riege" mit Hayek, Keynes und Marx zu sehen ist – ich aber kein Ökonom sei und "vorwiegend als politischer Aktivist auftrete". In der Aufregung, mit wem ich überklebt werden soll, wurde vergessen, die Lehrbuchautoren nach ihren didaktischen Kriterien zu befragen. Ich erfuhr: "Multiperspektivität" und "Kontroversität" – damit passt eine zivilgesellschaftliche Bewegung wie die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ), die eine ganz andere Perspektive auf die Wirtschaft einnimmt als vier hochdekorierte Akademiker, plötzlich in die Galerie des Anstoßes. Selbst Hayek hat es als gefährlich erachtet, die Wirtschaft den Ökonomen zu überlassen.

Fred Luks, Nachhaltigkeitskoordinator an der Wirtschaftsuniversität, stößt sich in seinem Debattenbeitrag ("Schulbuch-Posse: Meinung oder Wissen, im STANDARD vom 12. 4.) an zwei Dingen: Zum einen hätte ich die Gemeinwohl-Ökonomie "gewiss" nicht erfunden. Dabei trifft er keine Unterscheidung zwischen der zeitlosen "Idee" einer GWÖ und dem aktuellen "Konzept", um das es geht. Gemeinwohl-Ökonomie gab es immer schon. Aristoteles hat mit "oikonomia" und "chrematistike" quasi Synonyme für Gemeinwohl-Ökonomie und Kapitalismus geschaffen. Thomas von Aquin, Herman Daly, Amartya Sen, Elinor Ostrom, Stefano Zamagni ... viele haben in dieselbe Richtung gedacht. Die 2010 gestartete GWÖ-Bewegung hat in diesem Geist ein konkretes und umsetzbares Modell entwickelt.

Zweitens trage ich nach Luks "nichts zu einer leistungsfähigen Theorie" bei. Einmal abgesehen von 15 Büchern in elf Sprachen: Meine theoretische Nullleistung ließe sich "objektiv" messen, wenn Luks seinen Theoriebegriff offenlegte. Schade, dass er ihn schuldig blieb. Denn genauso wenig, wie die ökonomische Wissenschaft eine Naturwissenschaft ist, genauso wenig gibt es einen einheitlichen Theoriebegriff, anhand dessen eindeutig festgestellt werden kann, ob eine Aussage "Wissen" oder "Meinung" ist. In der Wissenschaftsphilosophie wurde der positivistische Theoriebegriff vom konstruktivistischen und noch aktueller pragmatistischen Theorieverständnis überholt. Märkte sind – Achtung, Meinung! – keine Naturgesetze, die es zu "entdecken" oder auch nur "verstehen" gilt, sondern sie sind vollständig menschengemachte "soziale Konstruktionen", die so oder anders gestaltet werden können. Am allerwenigsten naturgesetzlich ist der menschliche Charakter, den Mainstream-Ökonomen so genau zu kennen glauben, obwohl dieser ja nicht ihr Gebiet ist, aufgrund des selbstgewählten Autismus der Disziplin.

Eine pragmatistische Theorie wie die Gemeinwohl-Ökonomie muss sich in der Praxis bewähren, was sie auch tut: Am Tag der multiplen Panikattacke von Erhard Fürst ("Katastrophe", "Chaos", "Zerstörung", "Zusammenbruch", "Putsch", "Nordkorea") hat sich das 2000. Unterstützerunternehmen eingetragen. 320 davon haben eine Gemeinwohlbilanz erstellt, darunter die Sparda Bank München, Schachinger Logistik oder der Outdoor-Ausrüster Vaude. Weltweit hat sich in nur fünf Jahren eine Bewegung aus 19 Vereinen und über 100 Regionalgruppen aufgespannt – diese Realität kann auch die Industriellenvereinigung nicht überkleben!

In der spanischen Gemeinde Orendain stimmten 89,6 Prozent der Bürger für den Weg zur Gemeinwohlgemeinde. Stuttgart hat ein Budget für die Bilanzierung von Gemeinwohlbilanz-Betrieben freigegeben. Der Südtiroler Landtag hat die Förderung von Gemeinwohlunternehmen und -gemeinden beschlossen. Die Salzburger Landesregierung hat die GWÖ im Programm. Und im 350-köpfigen EU-Wirtschafts- und -Sozialausschuss haben 86 Prozent für die Gemeinwohl-Ökonomie gestimmt: Empirischer geht nicht.

An einem Forschungsprojekt der Unis Kiel und Flensburg beteiligen sich drei Dax-Konzerne, das Bildungsministerium in Berlin fördert es mit 600.000 Euro. Die Universität Barcelona ist nach der FH Burgenland und der Lausanne Business School die erste Uni, welche die Gemeinwohlbilanz erstellt. Zudem hat sie einen Unesco-Lehrstuhl GWÖ eingereicht. Die Karl-Franzens-Universität Graz hat uns den Lehrpreis 2012 verliehen. Die englische Ausgabe der Gemeinwohl-Ökonomie erfreut sich des Vorworts eines echten "Wirtschaftsnobelpreisträgers": Eric Maskin. International wird die Bewegung von Otto Scharmer bis Helga Kromp-Kolb, Manfred Nowak bis Konrad Paul Liessmann unterstützt.

Die GWÖ ist ein vollständiges Alternativmodell, eine Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft zu einer ethischen und tatsächlich liberalen Marktwirtschaft, weil sie für alle Menschen die gleichen Rechte, Freiheiten und Chancen vorsieht. Sie behebt den zentralen Systemfehler der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, die Verwechslung von Ziel (Gemeinwohl) und Mittel (Geld), und lenkt die unternehmerische Energie auf die Grundwerte der Gesellschaft, was einen ethischen Strukturwandel auslöst – Schumpeter hätte seine helle Freude.

Dadurch wird aber der heilige Gral des Kapitalismus entweiht: Das Kapital wird vom Zweck zum Mittel für ein gutes Leben, es verliert sein Grundrecht auf immerwährende Vermehrung, und sein Einsatz muss sich anhand höherer Werte bewähren. Derzeit ist es umgekehrt, weshalb die real existierende Wirtschaftsordnung die großen Probleme der Zeit mitverursacht: Sinnverlust, Klimawandel, Ressourcenkriege, Zwangsmigration, Explosion der Ungleichheit und Erosion der Demokratie. Wo sind hier die Antworten der Säulenheiligen? Welche Lösungsansätze hat die Mainstream-Wirtschaftswissenschaft anzubieten? Wichtiger als das Herausreklamieren einer Alternative wäre das Hinzufügen weiterer Lösungsansätze wie Solidarische Ökonomie, Commons, Care Economy, Blue Economy, Zivilökonomie. Das wäre eine Unterschriftenaktion wert!

Die Schulbücher mögen überklebt oder aus dem Verkehr gezogen werden, wie dies in Deutschland mit dem Lehrbuch Ökonomie und Gesellschaft auf Druck der Arbeitgeberverbände geschehen ist. Aber solche Ablenkungsmanöver werden das Entstehen einer pluralen, ganzheitlichen und partizipativeren Ökonomie nicht aufhalten können. (Christian Felber, 19.4.2016)