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Vor der Wende hat Schriftsteller Reinhard Jirgl Elektronik studiert und als Techniker an der Berliner Volksbühne gearbeitet.

Foto: dpa / Arne Dedert

Wien – Eine lüsterne Sprache ist das, mit Rufzeichen vor Worten und Bindestrichen dazwischen, Mit Istgleich-Zeichen, Kaufmannsunds, Klammern. Euphorisch legt sich allerlei zwischen die konventionellen Buchstaben. Das klingt schon im Druck. Die Logik dieser Eingriffe ins Wortmaterial erschließt sich nicht immer. Aber wen kümmert das beim Einsetzen des Rausches! Diese Sprache kommt einem tatsächlich naturhaften Vorgang gleich. Etwa dem Schlagen des Herzens dieser Tochter, mit dem das Buch einsetzt: "- Wa-bummp".

"Die Geschichte meiner literarischen Arbeiten aus den Jahren vor 1990 ist die Geschichte von amtlich verhängtem Erstickungstod", sagte Reinhard Jirgl einmal. Mittlerweile zählt der Büchner-Preis-Träger zu den bedeutendsten deutschen Autoren seiner Generation. 1953 in Berlin geboren, lebte und schrieb er aber bis zur Wende in der DDR. Für die seine Texte ausmachenden Sprachexperimente und Politkritik war da kein Platz. Die ideologiebetriebenen Bürokratiemühlen wussten Publikationen Jirgls bis zuletzt zu verhindern. Doch dann drängten die Manuskripte aus den Schubladen. Schlag auf Schlag.

Das Beharren der Dinge

Soeben erschienen ist sein jüngster Roman Oben das Feuer, unten der Berg. Und noch immer ist Jirgls Hauptthema das vergangene Regime. Wobei: vergangen? Die Dinge ändern sich nicht wesentlich, das ist seine Hauptthese. Egal ob beim Übergang von der "eNeSDeAPe" zur "eSEhDe" oder später mit der Wende, von ihm (nach dem Prinzip: alter Wein in neuen Schläuchen) "Großer Bürokratischer Umbau" genannt.

"wo der=ariges Erinnern schmerzt, dort geht man dem Schmerz aus dem Weg u dem Erinnern, & dann läßt sich Altes als Neu verkaufen", heißt es einmal. Bis in die Gegenwart reicht der Zeithorizont, den der Autor derart pessimistisch überblickt. Konstante dabei ist besagte Tochter, Theresa, Mitte 50, Historikerin. Zwei exemplarische DDR-Familiengeschichten treffen sich in ihr: die ihrer als Staatsfeinde unter ungeklärten Umständen verstorbenen leiblichen und die ihrer staatstreuen Adoptiveltern.

Als das Buch einsetzt, ist es 2012. Noch immer leidet Theresa an "Dieserwunde" und an den erschreckenden Entdeckungen, die sie in den 1970ern bei ihrer Arbeit in den geheimen Staatsarchiven gemacht hat. Politik und Privates greifen, wie in der DDR gelernt, ineinander.

Was gewesen sein hätte können

Jirgls Roman auch weiterhin auf einen Punkt zu bringen, ist schwierig. Nicht nur, weil er Genregrenzen nicht mag. Liebes-, Kriminal- und Zeitgeschichte mischen sich mit Science-Fiction. Zudem gibt es drei Kerne, um die herum die einzelnen Geschichten kreisen. Darunter die Existenz einer DDR-eigenen Killereinheit. Das Unternehmen "Neue Arche" dagegen erzählt die atomare Hochrüstung im Kalten Krieg als Mär: Eigentlich wollten sich die Ost-Führer eine Raumstation bauen. Als sichere Basis im All.

"Tatsachenfantasien" nennt der Autor den Status dieser Bausteine in Anlehnung an Alfred Döblin: Nicht das, was passiert ist, beschreibt er, sondern das, was möglich gewesen wäre angesichts der Fakten. Eine Erforschung der Geschichte, um deren verfestigte Rhetorik zu überwinden. Nicht nur das macht den Text trotz seiner aktenhaften Thematik lebendig. Wie immer pulst zudem, siehe den Einstieg, die Sprache.

Das Instrument Sprache

Sie ist eine über das Politische der erzählten Welt geschobene, poetische Folie. Sie entrückt das Geschehen zum zugleich Über-DDR-Gültigen. Bildkräftig und klug, analytisch der bloßen Betroffenheit zuwiderarbeitend.

Die auktoriale Funktion hat Jirgl dabei weitgehend abgegeben. Sechs Ich-Erzähler wechseln sich in ihren Erzählperspektiven ab, deren Anordnung ebenso wie die Textmengen und Kapiteleinteilungen verdanken sich dem alt-fernöstlichen I-Ging. Buch der Wandlungen heißt die mehr als 4000 Jahre alte Sammlung von 64 Strichzeichnungen, deren Autoren annahmen, damit sämtliche Möglichkeiten von Veränderungen in der Welt erschöpfend darzustellen: Ordnung bis ins Kleinste. Womit wir wieder bei der DDR wären. Die Lektüre lohnt. (Michael Wurmitzer, 20.4.2016)