Miguel de Cervantes: Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda. Aus dem Spanischen von Petra Strien. Mit Anmerkungen und einer Nachbemerkung von ders. sowie einem Nachwort von Gerhard Poppenberg. € 43,20/ 599 Seiten. Die Andere Bibliothek, Berlin 2016

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Wien – Sein Letztes hätte sein Bestes sein sollen. Der zweite Teil des Don Quijote war noch im Erscheinen, da preist Miguel de Cervantes bereits seinen Persiles als "äußerstmögliche Vollkommenheit". Am 19. April 1616 ist das Buch dann so weit. Vier Tage vor seinem Tod unterzeichnet der bald Siebzigjährige im Manuskript eine ergreifende Widmung an den Grafen von Lemos, seinen Mäzen. Ein Jahr darauf erscheinen auf Spanisch Die Mühen von Persiles und Sigismunda, eine Nordische Geschichte an acht verschiedenen Orten zwischen Lissabon und Port au Prince. Angesichts des Weltruhms des Verfassers waren Folgeauflagen bald zu erwarten. Sie blieben allerdings für lange Zeit aus.

Der selbstgesetzte Anspruch war hoch. Galt der Quijote als Inbegriff eines improvisierten Stücks Prosaliteratur, dessen Modernität sein Autor noch gar nicht erfassen konnte, so sollte Cervantes’ neuer Roman, Los Trabajos de Persiles y Sigismunda, die normativen Regeln der klassischen Poetik für das Europa der Gegenreformation fruchtbar machen. Sein Modell stammt aus der Spätantike: Cervantes verehrte die schon in Byzanz geschätzten, stets erbaulichen Liebesabenteuer, die ein Autor namens Heliodor ein gutes Jahrtausend zuvor in seinen Äthiopischen Geschichten hochkomplex komponiert und geschildert hatte.

Schiffbrüche, Wüstlinge, Korruption

Cervantes’ Aufgebot kreist seinerseits um ein züchtiges Liebespaar aus dem hohen Norden Europas. Der Seeweg führt es, nach eleganter Flucht vor Fürstentöchtern und Prinzen, die jeweils eines der zwei anmutigsten Geschöpfe auf Gottes Erden heftig, aber vergeblich umwerben, und nach dem Überleben von Schiffbrüchen und Piraterien, von Kannibalismen und tollkühnen Wettbewerben, zunächst nach Portugal. Von dort pilgern sie, die Höfe und Hauptstädte tunlichst vermeidend, wo sie allzuleicht Opfer von Korruption und von Wüstlingen werden könnten, nach Rom, um sich in der Ewigen Stadt, genauer: in den unwirtlichen Gefilden fuori le mura, wie sie noch Jahrhunderte später aus dem italienischen Nachkriegskino vertraut sind, endlich ihr Jawort geben zu können.

Der Seeweg strotzt zwischen Irland und der litauischen Küste vor imaginären Topographien. Erst der Landweg atmet eine nahezu ausgetrocknete Luft und eine ortskundige Szenographie, die zu überzeugen vermögen. Reichhaltig sind viele der eingesprengten Binnenerzählungen und Episoden, reich sowohl am Lob von Eheschließungen aus freiem Willen, an der Verurteilung gewaltbereiter Eifersüchtelei wie an Bekenntnissen und Konversionen plumpester katholischer Propaganda.

Den Persiles neu auf den Buchmarkt zu bringen, ist da, zumal im Jahr von Cervantes’ 400. Todestag, möglicherweise ein Gestus des Respekts mehr vor dem Autor als vor dem einzelnen Werk. Immerhin war der Roman bereits einigemal ins Deutsche übertragen, am schönsten, wenn auch mit spätromantisch verklärtem Anflug und nie nachgedruckt, 1837 von Dorothea Tieck. Um die unterschiedliche Sprachhöhen des Originals wiederzugeben — die textkritische Ausgabe durch die Königliche Spanische Akademie erfolgt im kommenden Jahr —, liegt jetzt eine Neuübersetzung vor. Bisweilen gelingen ihr Sätze und Reflexionen des Autors, die hierzulande so nüchtern noch nicht zu lesen waren. Bisweilen greift sie zu Wendungen, deren alltagssprachliche Gegenwartscouleur befremdet.

Und bisweilen entblödet sie sich, durch Einflechtungen eines "gerade mal" oder ähnlicher Partikel das Urteil ihres Lesers dort vorauszunehmen, wo der Autor ursprünglich nur Fakten nebeneinander gestellt hatte. Kein Novum ist, dass der Neuübersetzung, wie sämtlichen ihrer Vorgänger, einzelne Satzteile entfallen. Mühe bereitet das titelgebende Wort los trabajos: es mit "Irrfahrten" wiederzugeben, beansprucht odysseische Dimensionen. Fehler schließlich sind im Anhang zu finden: Verwechselt wird Cervantes’ Förderer, der Graf von Lemos, mit dem seinerzeit wichtigsten Berater des spanischen Königs, dem Grafen von Lerna.

Fremdenfeindliche Attribute

Letzterer ist Urheber einer damals schwerwiegenden politischen Entscheidung, die dem fragwürdigsten Kapitel von Cervantes’ Buch Pate steht. Gemeint ist die brutale Vertreibung von Hunderttausenden von Morisken zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus Spanien, eines ehemals aus dem Maghreb stammenden, bereits vor Generationen zwangskonvertierten Teils der Bevölkerung. Cervantes widmet ihr eine dramatische Szene. Weder spart er mit fremdenfeindlichen Attributen hinterhältigster Fiesheit, um die Opfer als Auszustoßende zu brandmarken; noch ziert er sich, die zeitgenössische rassistische Rhetorik ausgiebig Raum greifen zu lassen. Im Ergebnis lesen wir eine lange, wahrlich unerträgliche Passage. Die Romanistik hat sie häufig, auch geflissentlich, übergangen. Oder sich bemüht, sie mit auf vermeintliche "Ironie" lautenden Legitimationsversuchen zu salvieren. Mit dem Wissen um die Massenverfolgungen unter dem Nationalsozialismus und vor der Folie heutigen Umgangs mit Migranten in Europa kann diese Strategie nicht mehr verfangen. Im Gegenteil: Ist uns der Verlag nicht noch eine Erklärung schuldig geblieben? (Hendrik Feindt, 23.4.2016)