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Das tibetische Staatsorakel ist das Medium der Schutzgottheit Nechung, die per Schwur verpflichtet ist, den Dalai Lama, die tibetische Regierung und das tibetische Volk zu beschützen.

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Eigentlich waren Tibets Premier Lobsang Sangay und Parlamentssprecher Penpa Tsering Anfang April beim Orakel Tsering Chenga, um von ihm Segenssprüche und Zukunftsweisungen zu erhalten. Sangay und Tsering waren die Kandidaten in der Stichwahl um das Amt des Premierministers, dessen Ergebnis Mittwoch erwartet wird.

Doch statt Prophezeiungen gab es Maßregelungen. Die Gottheit bewarf sie mit Gerste, wie auf Videos zu sehen war. Gleichzeitig gab auch das Staatsorakel Nechung bekannt, die beiden hätten "das Geschenk der Demokratie" missbraucht, das Missmanagement der Regierung könne die Gesundheit des Dalai Lama gefährden. Das Orakel forderte die beiden auf, sich für ihr Verhalten im Wahlkampf zu entschuldigen.

Der Vorfall ist der bisherige Höhepunkt in einem innenpolitischen Konflikt, der weit über übliche Grabenkämpfe zwischen politischen Lagern hinausgeht. Es geht um die grundsätzliche Beschaffenheit der Demokratie im tibetischen Exil. Orakel sind fixer Bestandteil des tibetischen politischen Systems. Sie entstammen dem traditionell theokratischen Herrschaftssystem und sind nach tibetischem Glauben menschliche Medien, die bei Bedarf von Schutzgottheiten in Besitz genommen werden und in Trance Prophezeiungen aussprechen.

Ein tibetisches Orakel wirft Gerste auf den amtierenden Premierminister Sangay (links) und Parlamentssprecher Tsering (rechts) (ab Sekunde 0:50).

Minister tritt zurück, Premier entschuldigt sich

Das Staatsorakel ist eine Gottheit, die per Schwur dazu verpflichtet ist, den Dalai Lama zu beschützen – und sie hat damit großes Gewicht. Zwei Tage nach dem Eklat im Tempel trat Sicherheitsminister Dongchung Ngodup zurück – wie er betonte aus "moralischen Gründen". Die Mahnung des Orakels und eine Rede, die der Dalai Lama im März hielt, hätten ihn dazu bewogen. In der ungewöhnlichen Rede hatte der Dalai Lama die Arbeit des Gesundheitsministeriums kritisiert.

Einen Tag nach dem Rücktritt des Ministers kam eine offizielle Mitteilung von Sangay und Tsering. In einer gemeinsamen Aussendung entschuldigten sie sich "für ihr bedauerliches Benehmen im Wahlkampf" und riefen zum Zusammenhalt der tibetischen Exilgemeinschaft auf.

Einige Tage später fehlten beide beim Empfangskomitee für den Dalai Lama, der nach längerer Abwesenheit zurück in das indische Dharamsala, den Sitz der Exilregierung kam – ein höchst ungewöhnlicher Umstand. Laut internen Angaben, die auf der Nachrichtenseite "phayul" veröffentlicht wurden, habe der Dalai Lama selbst gebeten, die beiden mögen sich fernhalten.

Eine Demokratie mit Schutzgottheiten

Der Dalai Lama hat über die vergangenen Jahrzehnte sukzessive versucht, ein demokratisches System zu etablieren. 2011 legte er schließlich alle politischen Ämter zurück. Elemente wie die Wiedergeburt oder besagte Orakel bleiben aber Teil seiner politischen Vision. "Wenn ich vor einem Dilemma stehe, dann höre ich mir verschiedene Ansichten an, sowohl von verschiedenen Personen als auch von Orakeln", sagte er etwa 2012 in einem Interview.

Seit Jahrzehnten gibt es Stimmen, die diese Ansichten kritisieren und sich auch ganz grundsätzlich gegen die "Mittlere Weg"-Politik des Dalai Lamas stellen. Der Mittlere Weg fordert eine echte Autonomie Tibets innerhalb des chinesischen Staates, die Gegner wollen die volle Unabhängigkeit. Bei den diesjährigen Wahlen war zum ersten Mal ein Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung, Lukar Jam, für das Amt des Premierministers angetreten und hat damit eine hitzige Debatte über die Demokratie im Exil ausgelöst. Er schaffte es aber nicht in die Stichwahl.

Kein Platz für eine Opposition

Während die Opposition lauter wird, deklarieren sich die Konservativen vehementer. Der erste direkt gewählte Premierminister und enge Vertraute des Dalai Lamas, Samdhong Rinpoche, gab knapp nach den Wahlen bekannt, nicht gewählt zu haben, weil sich das politische System weg von einer "parteilosen Demokratie" hin zu Konkurrenz und Opposition bewege. Daher würden die Wahlen "nicht nach tibetischer Ethik" geschlagen.

Die zwei Kandidaten der Endrunde, Sangay und Tsering, traten beide als Vertreter der auch vom Dalai Lama propagierten Politik an. Am 20. März fand die Stichwahl zwischen den beiden statt, das offizielle Ergebnis wird für Mittwoch erwartet. Sangay gilt bereits jetzt als Gewinner. (saw, 26.4.2016)