Bernhard Kerres: "Die Digitalisierung der Musik führt dazu, dass so viel Musik wie noch nie zuvor gehört wird."

STANDARD: In Österreich hält man gern am Status quo fest, tut sich mit Wandel und Veränderungen schwer. Ein Klischee?

Kerres: Das ist nicht nur ein Problem in Österreich, sondern generell in Europa. Und es ist ein schwerwiegendes Problem für die Zukunft Europas. Wenn mich ausländische Freunde zu Österreich befragen, beschreibe ich satirisch, dass Österreich einmal das Zentrum eines der größten Reiche der Welt war. Österreicher agieren nach wie vor so, als ob wir dieses Reich steuern und verwalten würden. Allerdings gibt es dieses Reich seit langem nicht mehr.

STANDARD: Was müsste politisch passieren, damit Veränderung und Wandel stattfinden?

Kerres: In der europäischen Politik haben wir ein systemimmanentes Problem. Wir haben eine Funktionärsdemokratie – oder -oligarchie. Und dieses Funktionärssystem wird sich nicht selber abschaffen. Daher auch die großen Probleme, die wir derzeit in Europa haben. Es ist für mich unverständlich, dass wir es zulassen, seit Monaten keine direkten Züge zwischen Wien und München verkehren zu lassen, Passkontrollen innerhalb Europas wieder aufzubauen und vieles mehr. Und keiner steht auf, um zu sagen, dass wir stolz auf unser Europa sind und dass das Errichten von Sperren und Zäunen nicht im Sinne Europas ist.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Ergebnis der Bundespräsidentschaftswahl? Auch aus kulturpolitischer Sicht?

Kerres: Für mich ist das ein weiteres Alarmzeichen der tiefen Krise des politischen Systems in Österreich. Unvorstellbar, dass beide Kandidaten, die von den Großparteien unterstützt wurden, nicht nur verloren haben, sondern an letzter Stelle der ernstzunehmenden Kandidaten gelandet sind. Und beide Parteien erfreuen sich weiter der Krise, denn der Wandel würde nicht nur das System, sondern auch die handelnden Personen infrage stellen.

Heinz Fischer hat, was die Kultur und andere Themen betrifft, die Latte sehr hoch gelegt. Seine Frau und er waren regelmäßig privat in Konzerten des Wiener Konzerthauses, als ich dort Intendant war. Sie hatten ein besonderes Interesse für die zeitgenössische Musik. Er war der Politiker, der öfter als alle anderen zusammen im Haus war – dies inkludiert die Politiker mit Ressortverantwortlichkeit für Kultur.

Ich freue mich, dass Alexander Van der Bellen von vielen Künstlerinnen und Künstlern unterstützt wird – von Martin Grubinger, Doron Rabinovici bis zu Willi Resetarits und vielen mehr. Meine Stimme ist ihm sicher.

STANDARD: Gerade die Musikbranche durchlebt derzeit große Veränderungen, Stichwort Digitalisierung.

Kerres: Die Musikbranche durchlebt große Veränderungen, seit es sie gibt. Joseph Haydn hat den Fürsten Esterházy eine Spielorgel hinterlassen, als er nach London aufbrach, um als freier Musiker und Komponist nicht für die Höfe, sondern für das interessierte Publikum tätig zu sein. Die Digitalisierung der Musik führt dazu, dass so viel Musik wie noch nie zuvor gehört wird. Und in der Klassik haben wir eine gewaltige Zukunft: Wir haben die besten Medieninhalte dieser Welt. Jedes Medienunternehmen würde uns um diese Inhalte beneiden. Und wir haben das beste Publikum in unserer Geschichte, da es weltweit einen signifikant höheren Bildungsgrad als je zuvor gibt, der direkt mit dem Genuss klassischer Musik korreliert.

STANDARD: Wo liegen dann die Probleme?

Kerres: Unser größtes Problem sind die Dinosaurier: Es gibt zu viele Menschen in der Musikbranche, die krampfhaft versuchen, den Status quo zu halten. Dabei gibt es auch durchaus wesentliche Themen, die gelöst gehören, wie zum Beispiel eine faire und transparente Rechtsabgeltung. Aber die Dinosaurier werden aussterben, und damit können wir beginnen, Musik noch mehr zu genießen und zu verbreiten, immer mit dem Respekt und auch den entsprechenden Abgeltungen, die den Schöpfern und Ausführenden der Musik zustehen.

STANDARD: Beispiele aus dem Musikbereich, die wichtig sind, um den Wandel voranzutreiben?

Kerres: In der klassischen Musik müssen wir den Elitestatus brechen. Schon 1967 rief Pierre Boulez dazu auf, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Einiges ist seither dank seiner und vieler anderer geschehen. Trotzdem entspricht der heutige Opern- und Konzertbetrieb nicht einer jüngeren Generation. In Silicon Valley hat mich fasziniert, wie viele junge Menschen regelmäßig Klassik hören, aber nicht in die Oper oder die Konzerthäuser gehen. Sie gehen aber begeistert zu den kleinen, privat organisierten Konzerten. Da haben wir noch ein großes Stück Weg vor uns.

STANDARD: Warum tun sich viele Menschen so schwer mit Veränderungen?

Kerres: Veränderung bringt immer die Angst vor dem Unbekannten mit sich. Daher braucht es eine größere Überwindung, Veränderung voranzutreiben, als den Status quo beizubehalten.

STANDARD: Haben es kreative Menschen leichter, mit Krisen und Veränderungen umzugehen?

Kerres: Wahrscheinlich. Kreative Menschen gehen teilweise bewusst an und über Grenzen, um Neues zu entdecken. Teilweise tun sie das ganz unbewusst und selbstverständlich. Johann Sebastian Bach hat sich bewusst mit der neuen, wohltemperierten Stimmung auseinandergesetzt und in seinem Werk Das wohltemperierte Klavier nicht nur mit einer neuen Welt der Musik gespielt, sondern sie für die Musik dadurch gefestigt. Ohne ihn – und einige andere – wären all die Elemente, die die heutige Musik ausmachen, gar nicht möglich gewesen.

STANDARD: Ist eine Krise eigentlich auch immer eine Chance?

Kerres: Nein. Es ist gut, wenn wir versuchen, so zu denken, denn das gibt uns Kraft, die Dinge anzupacken. Aber es gibt Krisen, in denen nicht wirklich Chancen liegen. Ich denke dabei vor allem an persönliche Krisen – eine schwere Krankheit, den Verlust eines geliebten Menschen. (Astrid Ebenführer, 26.4.2016)