Das Ergebnis der ersten Runde der österreichischen Präsidentenwahlen gilt mit Recht als umstürzendes Ereignis. Beide großen Gründerparteien der Zweiten Republik brachten es nicht fertig, ihre Kandidaten in die Stichwahlen zu bringen. Damit ist eine tiefe Entfremdung zwischen den großen traditionellen politischen Gruppierungen und der Wählerschaft offenkundig geworden.

Es handelt sich freilich um kein kurzfristiges Phänomen.

Als Erstes war das praktische Verschwinden der Jugendorganisationen der Großparteien festzustellen. Dann kam der langsame Tod der Parteizeitungen. Das "Kleine Volksblatt" der ÖVP wurde 1970 eingestellt, die "Arbeiter-Zeitung" nach langem Siechtum 1991.

Parteimitglieder und ...

Die Zahl der Parteimitglieder war und blieb allerdings im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten ungewöhnlich hoch. Um 1980 hatte die SPÖ mehr als 700.000 Mitglieder, mehr als die SPD, die ÖVP gab sogar etwa 800.000 Mitglieder an. Heute dürfte die Mitgliederzahl der SPÖ um die 200.000 betragen, die ÖVP gibt keine Zahlen mehr bekannt.

Gelernte Österreicher wissen allerdings, dass es vielfach die Hoffnung auf beruflichen Aufstieg und eine leistbare Wohnung war, die bis knapp vor der Jahrtausendwende zu Parteieintritten motivierte. Das umfassende Patronagesystem der Großparteien befand sich allerdings schon seit langem in einem Prozess der Aufweichung.

... umfassende Patronage

Um 1980 stand die Sozialdemokratie in Österreich scheinbar auf dem Gipfelpunkt ihres Erfolgs. Die Wirtschaftspolitik des Austrokeynesianismus schien auch in schwierigeren Zeiten Vollbeschäftigung zu garantieren. Allerdings brachen damals bereits die verstaatlichte Industrie und andere Bereiche der "Gemeinwirtschaft", die Stütze des Patronagesystems gewesen waren, langsam ein.

Während Österreich noch im Abendglanz der Ära Kreisky lag, konnte man in Großbritannien bereits deutliche Alarmsignale wahrnehmen. Dort galt die seit längerem am Ruder befindliche Labour-Regierung unter Harold Wilson und später James Callaghan als schwer angeschlagen; sie brachte einerseits die zersplitterten und streikfreudigen Gewerkschaften nicht unter Kontrolle, andererseits war die Labour-Mitgliedschaft so ausgedünnt, dass manche Ortsvereine von winzigen Gruppen linksextremer Sektierer übernommen werden. Das machte es der "Eisernen Lady" Margaret Thatcher leicht.

Aktivisten und Anhänger

Das Problem der nicht repräsentativen Meinungen und der Kluft zwischen den divergierenden ideologischen Auffassungen von Parteiaktivisten und möglichen Parteianhängern spielte in der Folge aber nicht nur in Großbritannien eine Rolle.

Die wachsende Entfernung der politisch Interessierten und Agierenden von der Wählerschaft zeigt nun auch hierzulande bedenkliche Auswirkungen. Die einstigen Massenparteien wurden zu Spielwiesen kleiner Machtklüngel. "Von der Partei zur Partie" lautete der treffende Titel eines kritischen Aufsatzes, der beachtlicherweise schon in einem Buch zum hundertjährigen Jubiläum der Sozialdemokratie in Österreich veröffentlicht wurde. Die verachtungsvolle Abwehrhaltung einer politisch agierenden rot-grün-feministischen Oberschicht gegenüber den "Prolos" und ihren populären Massenmedien à la "Kronen Zeitung" wird von Letzteren natürlich lustvoll zu Gegenattacken genützt. Wo Homo-Ehe und das richtige "Gendering" der Nationalhymne als wesentliche Anliegen gelten, besteht aber das immer größere Risiko, dass verunsicherte Wähler sich rechten Gruppierungen zuwenden.

Gibt es Auswege? Bruno Kreisky wollte einst "alle Lebensbereiche mit Demokratie durchfluten". Das mag zum Teil Propaganda gewesen sein, zum Teil Selbsttäuschung. Aber ein System verpflichtender parteiinterner Vorwahlen oder zumindest ein teilweises Persönlichkeitswahlrecht könnte dazu beitragen, die ausgedünnten Parteiorganisationen aus dem "Spinner-Eck" herauszuholen. (Robert Schediwy, 26.4.2016)