Berlin/Santiago de Chile – Das deutsche Auswärtige Amt gibt seine Akten über die berüchtigte frühere Deutschen-Siedlung "Colonia Dignidad" in Chile vorzeitig für die Öffentlichkeit frei. Dies kündigte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am Dienstagabend in Berlin an. Normalerweise wäre das Material noch bis zu zehn Jahre unter Verschluss geblieben.

Zugleich gab Steinmeier zu, dass die deutsche Diplomatie zu wenig unternommen habe, um den Opfern der "Colonia Dignidad" zu helfen.

Die etwa 350 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago gelegene Siedlung war Anfang der 1960er-Jahre von deutschen Auswanderern gegründet worden. Ihr Anführer Paul Schäfer schuf dort eine Art Sekte. Ohne seine Erlaubnis durfte niemand das mit Stacheldraht abgeriegelte Gelände verlassen. Während der chilenischen Militärdiktatur (1973-1990) wurde dort auch gefoltert.

Schäfer tauchte 1997 unter und setzte sich nach Argentinien ab. Nach seiner Festnahme wurde er wegen Kindesmissbrauchs und anderer Delikte zu 33 Jahren Haft verurteilt. Er starb 2010 in einem chilenischen Gefängnis. Die Geschehnisse aus den 1970er-Jahren sind jetzt Grundlage für den Kinofilm "Colonia Dignidad", der am Dienstag im Auswärtigen Amt gezeigt wurde.

Kritik an Diplomatie

Steinmeier äußerte sich nach der Vorführung kritisch über die damalige Diplomatie. Der Umgang mit der "Colonia Dignidad" sei "kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Auswärtigen Amtes", sagte er dem im Voraus verbreiteten Redetext zufolge. "Über viele Jahre hinweg haben deutsche Diplomaten bestenfalls weggeschaut – jedenfalls zu wenig für den Schutz ihrer Landsleute in dieser Kolonie getan."

Der SPD-Politiker fuhr fort: "Im Spannungsfeld zwischen dem Interesse an guten Beziehungen zum Gastland und dem Interesse an der Wahrung von Menschenrechten ging Amt und Botschaft offenbar die Orientierung verloren." Steinmeier kündigte an, dass die "Colonia Dignidad"-Akten bis 1996 vorzeitig für Medien und Wissenschaft geöffnet werden.

Chiles Außenminister Heraldo Munoz begrüßte die Entscheidung und sprach der Bundesregierung seine Anerkennung aus. "Wir hoffen, dass diese Informationen dazu beitragen, die dort begangenen Verbrechen aufzuklären", sagte Munoz am Dienstagabend (Ortszeit) in Santiago de Chile.

Zu der Vorführung im Auswärtigen Amt waren auch mehrere Opfer der "Colonia Dignidad" geladen. Aus ihren Reihen gibt es immer wieder auch die Forderung nach Entschädigung. Der Fall war schon in den 1980er-Jahren auch in Deutschland bekannt, ohne dass von der Bundesregierung viel unternommen wurde. Auf dem Gelände gibt es heute noch eine Siedlung, die mittlerweile den Namen "Villa Baviera" trägt.

Der ehemalige Sektenarzt Hartmut Hopp – früher Schäfers rechte Hand – lebt heute in Krefeld. Hopp war in Chile 2011 wegen Kindesmissbrauchs zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Bevor er die Strafe antreten musste, setzte er sich nach Deutschland ab. Die deutsche Justiz will demnächst entscheiden, ob er nun hier ins Gefängnis kommt. (APA, 27.4.2016)