Alexander Van der Bellen, Norbert Hofer und Irmgard Griss am Wahlabend. Die Drittplatzierte kann jetzt mitentscheiden, wer Präsident wird.

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Irmgard Griss hat durch einen klugen und beherzten Wahlkampf auch anfängliche Skeptiker – darunter auch mich– eines Besseren belehrt. Trotz mancher blinder Flecken, vor allem bezüglich der Offensichtlichkeit der Gräuel der NS-Herrschaft, ist die unabhängige ehemalige Höchstrichterin zu einer starken Stimme des bürgerlichen Liberalismus geworden, die in diesem Land bisher oft gefehlt hat.

Sie hat sich dabei eine wahre moralische Autorität erworben, die sie nun, obwohl sie die Stichwahl knapp verfehlt hat, zum Nutzen des Landes einsetzen kann. Deshalb ist es dringend notwendig, dass sich Griss offen zur Wahl von Alexander Van der Bellen bekennt und auch ihre Wähler dazu aufruft, ihm ihre Stimme zu geben.

Hofer verletzt ihre Werte

Sie muss deutlich erklären, dass ein Wahlsieg Norbert Hofers viele Prinzipien und Werte gefährden würde, für die Griss Zeit ihres Lebens eingetreten ist: Respekt für den Rechtsstaat und die politische Gewaltenteilung in einer Demokratie; Toleranz gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden; Überwindung nationaler Kleinstaatlerei durch konstruktive Zusammenarbeit auf EU-Ebene.

Wenn Hofer ankündigt, dass er zu EU-Gipfeln mitfahren will, um dort österreichische Interessen zu verteidigen, dann macht er klar, dass für ihn Europa nur eine Arena nationaler Rivalitäten im Geiste der 1930er-Jahre ist.

Illiberal wie Ungarn und Polen

Und wenn er die Entlassung der Regierung als ständiges Druckmittel gegen unerwünschte Entscheidungen sieht, dann will er einen neuen, illiberalen Staat errichten, der dem heutigen Ungarn und Polen mehr ähnelt als der Zweiten Republik. Das kann nicht im Sinne von Griss sein. Sie mag mit Van der Bellen in vielem nicht übereinstimmen, aber von der Gesinnung her passt der grün-liberale Ökonomieprofessor zu ihr.

Griss sollte auch bedenken, wie eine Hofer-Präsidentschaft im Ausland wirkt, was das für die Reputation des Landes bedeutet.

Griss kann Stichwahl entscheiden

Griss hat heute mehr Einfluss auf den Wahlausgang als irgendjemand anderer im Land. Ein Blick auf die Wahlarithmetik macht das klar: Wenn es Hofer gelingt, im zweiten Wahlgang die Hälfte des Griss-Stimmanteils von 18,9 Prozent, die Hälfte der Wähler von Andreas Khol (11,1 Prozent), Richard Lugners 2,3 Prozent und ein paar versprengte Wähler von Rudolf Hundstorfer zu gewinnen, dann kommt er bei gleichbleibender Wahlbeteiligung auf rund 53 Prozent.

Wenn Griss aber auch nur zwei Drittel ihrer Wähler überzeugen kann, Van der Bellen ihre Stimme zu geben, und ihr Appell auch auf andere Wähler oder Nichtwähler wirkt, die mit ihr sympathisieren, dann kommt Van der Bellen mithilfe der meisten Hundstorfer-Stimmen auf knapp über 50 Prozent.

Faymann und Mitterlehner können es nicht

Niemand anderer hat derzeit diesen Einfluss. Die SPÖ-Spitze ist mit sich selbst beschäftigt, und die Autorität von VP-Chef Reinhold Mitterlehner ist schwerbeschädigt. Er wird sich, auch wenn er Hofer ablehnt, nicht für Van der Bellen auszusprechen trauen, weil er weiß, dass zu viele Parteigänger auf jeden Roten oder Grünen allergisch sind – und es ohnehin nicht viel nützen würde.

Griss muss sich bald deklarieren, damit ihre Stimme auch wirklich überzeugen kann. Jeder Tag, der vergeht, und sie sich ihre Wahl offenhält, stärkt Hofers Legitimität bei bürgerlichen Wählern.

Tut sie es nicht, dann hätte sie ihre größte Chance verspielt, Österreichs Politik im positiven Sinne zu beeinflussen. Dann haben auch alle ihre Überlegungen über weitere politische Vorhaben wenig Sinn. Eine Topjuristin, die die Gefahr nicht erkennt, die von einem noch so freundlichen autoritären Politiker ausgeht, könnte in der Politik keine konstruktive Rolle spielen. (Eric Frey, 27.4.2016)