Mathis Bogens begann als "Fuchs" bei seiner Verbindung. Später war er lange Jahre "Oldermann", und seine Freunde nennt er "Stechbruders". Über Mensuren, die in Österreich gefochten werden, kann er nur lachen. In Estland trägt man einen Helm.

Foto: Tobias Mayr

"Einigkeit, Stärke und Ehre" – der Wahlspruch schmückt das prachtvolle Wappen der Korporation Vironia, einer der größten und ältesten Burschenschaften in Estland. Elf männliche und vier weibliche Verbindungen existieren in dem Ostseestaat. Die meisten sind in der 100.000-Einwohner-Stadt Tartu aktiv, dem universitären Herzen Estlands.

Routiniert führt Mathis Bogens durch das alte Konventhaus, während er die Traditionen des "korp! Vironia" erklärt. Er fing hier als "Fuchs" an – der ersten Stufe in einer Männerverbindung. Als Fuchs ist man noch nicht zur vollen Teilnahme an den bündischen Aktivitäten berechtigt. Später war Bogens lange Jahre "Oldermann", der Chef. Seine Freunde nennt er die "Stechbruders". Deutsche Begriffe sind omnipräsent, wenn Bogens von der Verbindung spricht. Die Deutschen trugen die studentischen Traditionen ins Baltikum.

Burschenschaften entwickelten sich im Baltikum in der Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa zeitgleich wie in Österreich. Der landbesitzende deutschstämmige Adel organisierte damals das Leben an den Universitäten Tartu und Riga. Um die Jahrhundertwende gründeten estnischen Studenten eigene Verbindungen. Die deutschen Strukturen und Traditionen wurden übernommen.

Lernen, reden, Bier trinken

Im Korp trifft man sich zum Lernen, zum Reden und besonders gern zum Trinken. Stolz erklärt Mathis Bogens, wie wichtig es sei, das richtige Trinkverhalten zu erlernen. Der Begriff "betrunken" wird gern vermieden, stattdessen nennt man es "müde". Frauen sind vom gemeinsamen Trinken ausgeschlossen. "Es ist nicht dasselbe, wenn Frauen dabei sind", sagen viele der Mitglieder. Frauen hätten ja ihre eigenen Verbindungen.

Die Damenverbindungen ähneln jenen der Männer. Man legt Wert auf die Gemeinschaft, auf damenhaftes Benehmen und konservative Werte. Doch finden sie viel weniger Zustrom als ihre männlichen Pendants. "Sie haben den Ruf, Hausfrauen auszubilden", sagt die Politikwissenschafterin Catlyn Kirna von der Uni Tallinn, "das ist in gewisser Weise wahr."

Ähnlich wie in vielen österreichischen Burschenschaften wird bei Vironia auch gefochten. Aber mehr weil es die Tradition so verlange, gibt Bogens zu. Dabei gilt stets Helmpflicht. Über die stolz getragenen Schmisse der schlagenden Burschenschafter in Österreich muss er lachen.

Drei Prozent in Verbindungen

Ein Viertel der Einwohner Tartus sind Studierende, davon sind etwa drei Prozent Verbindungsmitglieder. Doch fast jeder hat Bekannte und Freunde in den Organisationen. Zu feierlichen Anlässen wie der Walpurgisnacht steigen in den Verbindungshäusern wilde Partys. Die Studenten mit Mütze und Farben gehören zum Stadtbild von Tartu dazu.

Das liegt unter anderem an der deutlich gemäßigteren Weltanschauung der estnischen Korporationen im Vergleich zu den österreichischen Kameraden. "In diesen Räumen ist es verboten, über Politik und Religion zu sprechen", sagt Bogens. Wer andere von ideologischen Standpunkten überzeugen möchte, habe in einer Korp nichts verloren. Es ist egal, welche politische oder religiöse Einstellung man vertritt oder welches Fach man studiert.

Patrioten aus der Heimat

Was nicht egal ist, ist der Patriotismus. Denn wer sich nicht zum Heimatland bekennt, darf nicht Mitglied werden. Die Burschenschafter sind überzeugt, einen entscheidenden Beitrag zur estnischen Unabhängigkeit geleistet zu haben. Sie sehen sich bis heute als die Pfleger des estnischen Kulturerbes.

Die Korps würden ihre gesellschaftliche Stellung überschätzen, sagt Kirna: "Außerhalb von Tartu spielen die männlichen und weiblichen Korps keine Rolle." In Estlands größter Unistadt wird sich das wohl auch bald ändern. Denn es studieren immer mehr Ausländer in Tartu – und die sind vom estnischen Verbindungsleben traditionell ausgeschlossen. (Tobias Mayr 28.4.2016)