STANDARD: Als Soziologin und Aktivistin beschäftigen Sie sich seit den 90er-Jahren mit Feminismus, Minderheitenrechten und sozialen Bewegungen. Wie ist die derzeitige Stimmung innerhalb der feministischen Bewegung in Istanbul?
Selek: In Istanbul leben 15 bis 20 Millionen Menschen, das ist ein Viertel der türkischen Bevölkerung. Viele Probleme, die es in der Türkei gibt, verdichten sich in Istanbul. Es gibt viele Angriffe, und die Kriegsbedingungen machen das Leben sehr schwierig und blockieren vieles. Die feministische Bewegung ist weiterhin aktiv, aber die Leute sind auch ermüdet. Die Bedingungen sind alles andere als optimal. Zurzeit fahren wir durch einen sehr dunklen Tunnel, es ist ein Tunnel des Horrors, und wir wissen nicht, wie lang diese Fahrt noch dauern wird. Deswegen ist die internationale Solidarität sehr wichtig, weil sie so etwas wie Lüftungsrohre öffnen kann. Eine internationale Aufmerksamkeit und Solidarität ist auch deshalb so wichtig, weil sie diese Bewegung sichtbar macht.
STANDARD: Sie sind Mitgründerin des feministischen Magazins "Amargi", das auch ein wichtiges Debattenblatt zu feministischen Bewegungen in der Türkei ist und alle drei Monate erscheint.
Selek: Derzeit erscheint "Amargi" nur online, weil wir so mehr Leute erreichen können und das unseren Radius erweitert. Das ist eine freiwillige Zusammenarbeit. Der Verkauf und die Distribution haben uns viel Kraft gekostet. Man kann uns auch unterstützen, indem man etwa die Texte von "Amargi" übersetzt oder die Nachrichten darüber übersetzt, was in den sozialen Bewegungen derzeit passiert. Diese Form der Unterstützung ist wichtig, damit die Bewegung wieder zum Atmen kommt.
Aktuell kämpft die feministische Bewegung auch gegen die Stärkung des Neokonservativismus. Die neokonservative politische Bewegung zieht sich das Kleid des Islams über, allerdings gilt das nicht nur für die Türkei. Wir können sehen, dass der Konservativismus in mehreren gesellschaftlichen Bereichen populär wird. Aber der Angriff von neokonservativer Seite findet nicht nur in der Türkei statt, sondern ist ein globales Phänomen.
STANDARD: Die türkische Frauenbewegung war von Anfang an auch eine antimilitaristische Bewegung. Inwiefern ist diese Verbindung heute noch von Bedeutung?
Selek: Es gibt keine türkische Frauenbewegung, so wie es auch keine österreichische Frauenbewegung gibt, weil man nicht von einer homogenen Bewegung sprechen kann, aber es gibt eine feministische Bewegung. Ja, die feministische Bewegung ist entstanden in einer Auseinandersetzung mit dem Militarismus – und mit dem Nationalismus. Nach der Gründung der Republik 1923 wurde die Frau zu einem Symbol der Gleichberechtigung erhöht. Zwar konnten die Frauen tatsächlich mehr erreichen als davor, aber sie wurden auch durch den türkischen Nationalismus vereinnahmt. Die republikanische Form war aber keine Form der Befreiung, stattdessen hat der Nationalismus die Frauenfrage benutzt. Das war der Ausgangspunkt der feministischen Bewegung in der Türkei. Sie war von Anfang an eine Verbündete der antimilitaristischen Bewegung. Natürlich ist auch die feministische Bewegung nicht homogen, aber diese Strömung ist in der türkischen Feminismusbewegung sehr stark.
STANDARD: In ihrem 2010 erschienenen Buch "Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt. Männliche Identitäten" haben Sie sich mit Militärdienst und Identitätsfindung auseinandergesetzt. Inwiefern sind die Verbindungen zwischen Männlichkeit und Militarismus für die feministische Bewegung relevant?
Selek: Es waren diese Debatten innerhalb der feministischen Bewegung, die mich dazu geführt haben, diese Forschung zu machen. Aktuell bringt sich die feministische Bewegung sehr stark in die Antikriegsbewegung ein und versucht ein Teil dieser zu sein. Es ist derzeit sehr schwierig, dennoch versuchen Frauen in die Gebiete zu gehen, wo aktuell Ausnahmezustand ist und Krieg herrscht. Konkret sieht das so aus, dass ein Frauenkollektiv in diese Gebiete reist, mit Frauen vor Ort redet, eine Presseerklärung abgibt und dasselbe auch in Istanbul macht, um auf die spezifische Situation und die Anliegen von Frauen in Kriegsgebieten aufmerksam zu machen.
STANDARD: Mit den Protesten im Gezi-Park 2013 brachte die Zivilgesellschaft ihr schon länger herrschendes Unbehagen mit der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zum Ausdruck. Welche Querverbindungen bestanden hier zur feministischen Bewegung?
Selek: In der Entwicklung der sozialen Bewegungen in der Türkei kommt der feministischen Bewegung eine Vorreiterrolle zu. Das habe ich in meinem Beitrag in dm Buch "Türkei – Kontinuitäten, Veränderungen, Tabus" ausgeführt. Seit ihren Anfängen hat die feministische Bewegung sehr stark Kritik am Staat, am Nationalismus und am Militarismus geübt. In einer Zeit, als es eine starke Polarisierung innerhalb der türkischen Gesellschaft gab, hat sie damit einen neuen Weg eingeschlagen. Das hat auch die Entstehung anderer Bewegungsformen und Formen der Politisierung ermöglicht. Von der anarchistischen Bewegung, der LGBT-Bewegung, der antimilitaristischen Bewegung und sozial-ökologischen Bewegungen herrscht reger Austausch mit der feministischen Bewegung. Diese unterschiedlichen Bewegungen konnten aufgrund der starken Unterdrückungsmechanismen zusammenfinden.
Die feministische Bewegung hat immer schon Bündnisse mit der Linken und auch mit der kurdischen Bewegung geschlossen. Diese Bündnisse waren nie einfach, da gab es auch viele Probleme und Schwierigkeiten. Aber durch dieses Miteinander und Nebeneinander hat sich auch eine Form der Zusammenarbeit ergeben. Das hat zu einer Transformation geführt, einer Transformation der Bewegungen, aber auch der Personen, die Teil dieser Bewegungen sind. Das gemeinsame Anliegen hat die Personen transformiert. Man könnte sogar meinen, dass die Personen und einzelnen Menschen sich stärker und schneller transformiert haben als die Organisationen. Das führte auch zu neuen Organisationsformen. Ich behaupte, dass die feministische Bewegung diese Transformationen durch ihre Arbeit ermöglichte.
STANDARD: Welche alternativen Strukturen sind seit den Gezi-Protesten entstanden?
Selek: Gezi ist ein sehr stark sichtbarer Teil dieser neuen sozialen Bewegungen. Aber Gezi ist nicht spontan passiert. Man muss hier auch die Rolle der neuen sozialen Bewegungen betrachten, die die Proteste um Gezi hervorbrachten. Die einzelnen Menschen, die an den Protesten teilnahmen, waren enormem Druck und massiver Gewalt ausgesetzt. Es gab Tote, Menschen haben ihr Augenlicht verloren, viele wurden verhaftet. Diese Repression, diese Rache sozusagen, setzt sich fort. Insofern ist es fast selbstmörderisch, wenn man die Bewegung in dieser Form vorantreibt. Deswegen versuchen die AktivistInnen nicht mehr unbedingt den Platz zurückzuerobern. Im Anschluss an Gezi hat sich die Zivilgesellschaft alternative Räume geschaffen. Durch diese Räume versucht sie jetzt neue Formen des Widerstands zu entwickeln. Die Proteste waren nicht spontan, Gezi fiel nicht vom Himmel. Aus diesem Grund haben sich die Bewegungen auch nicht in Luft aufgelöst. Gezi war eine wichtige Erfahrung. Auch wenn die Zivilgesellschaft sehr stark der staatlichen Gewalt ausgesetzt war, kann man am Ende sagen, dass sie gestärkt daraus hervorgegangen ist.
STANDARD: Seit 18 Jahren sind Sie in eine Geschichte juristischer Willkür verwickelt, die Sie zu einem Leben im Exil gezwungen hat. Was bedeutet es für Sie, im Exil zu leben?
Selek: Es gab im Dezember 2014 einen Freispruch – dagegen hat jedoch die Staatsanwaltschaft Einspruch erhoben. Derzeit wird in der höchsten Instanz entschieden, ob es einen Freispruch oder eine Verurteilung zu lebenslanger Haft geben wird. Seit über einem Jahr warte ich auf die Entscheidung. Ich leiste Widerstand im Exil. Ich versuche das Exil zu dekonstruieren. Das Leben im Exil ist schwierig, weil man anfangs die neuen gesellschaftlichen und sozialen Dynamiken nicht so gut versteht. Wir sind von den sozialen Räumen, in denen wir uns bewegen, geprägt, man gestaltet diese Räume auch. Wenn man diesen Raum, diese sozialen Netze verlassen muss, müssen wir uns neu zurechtfinden. Die ersten zwei Jahre meines Exils verbrachte ich in Deutschland. Als ich merkte, dass das Exil noch viele Jahre dauern würde, bin ich nach Frankreich gegangen. Ich konnte bereits Französisch, und es war mir wichtig, mich so schnell wie möglich einzuleben. In Frankreich konnte ich mich von Anfang an einbringen und in Organisationen engagieren. Jetzt bin ich auch Teil der sozialen Bewegungen in Frankreich. Deshalb beschäftige ich mich nicht nur mit den Problemen in der Türkei, sondern auch mit den Problemen in Frankreich – der globalen Welt. Man kann sich nur einbringen, wenn man auch die Sprache sprechen kann.
STANDARD: Die Verfolgung, die Sie erfahren haben, ist auch als Warnung an alle zu verstehen, die es wagen, die politischen Zustände in der Türkei zu kritisieren?
Selek: Ja, aber ich bin nicht die Einzige, die Widerstand leistet. Es gibt mehrere, die widerständig sind. Der Widerstand jedes Einzelnen gibt uns Kraft weiterzukämpfen. (Christine Tragler, Übersetzung aus dem Türkischen: Ilker Ataç, 28.4.2016)