Am 9. März erschien in führenden Zeitungen (im STANDARD unter dem Titel "Unfehlbarkeit: Ein Appell an Papst Franziskus") verschiedener Länder mein Appell an Papst Franziskus, einer freien, unvoreingenommenen und ergebnisoffenen Diskussion der Unfehlbarkeitsproblematik Raum zu geben. Es hat mich sehr gefreut, schon unmittelbar nach Ostern über die Berliner Nuntiatur ein vom Palmsonntag (20. März) datiertes persönliches Antwortschreiben von Papst Franziskus zu erhalten.

An diesem Schreiben sind für mich folgende Punkte bedeutsam:

  • dass mir Papst Franziskus überhaupt antwortet und mich nicht mit meinem Appell sozusagen ins Leere laufen lässt;
  • dass er selbst antwortet und nicht nur durch seinen Privatsekretär oder den Kardinalstaatssekretär;
  • dass er den brüderlichen Charakter seines spanischen Schreibens unterstreicht durch die kursiv gesetzte deutsche Anrede "lieber Mitbruder";
  • dass er den Appell, den ich ihm auch in einer spanischen Übersetzung beigelegt hatte, aufmerksam gelesen hat;
  • dass er die Überlegungen hochschätzt, die dazu geführt haben, den Band 5 zu schreiben, in dem ich vorschlage, die verschiedenen Fragen, die das Dogma der Unfehlbarkeit aufwirft, im Licht der Heiligen Schrift und der Tradition theologisch zu diskutieren mit dem Ziel, den konstruktiven Dialog der Kirche des 21. Jahrhunderts, "semper reformanda", mit der Ökumene und der postmodernen Gesellschaft zu vertiefen.

Einschränkungen macht Papst Franziskus nicht. Damit hat er meinem Wunsch entsprochen, einer freien Diskussion des Dogmas der Unfehlbarkeit Raum zu geben. Diesen neuen Freiraum, so meine Folgerung, gilt es zu nutzen, um die Klärung der in katholischer Kirche und Ökumene umstrittenen dogmatischen Festlegungen voranzutreiben.

Freie pastorale Diskussion

Damals konnte ich nicht ahnen, welchen Freiraum Papst Franziskus wenige Tage später im Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris laetitia eröffnete. Schon in der Einleitung erklärt er, "dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen". Er wendet sich gegen eine "kalte Schreibtischmoral" und will nicht, dass sich die Bischöfe weiterhin wie "Kontrolleure der Gnade" verhalten. Die Eucharistie sieht er nicht als eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern als eine "Nahrung für die Schwachen". Wiederholt zitiert er Äußerungen der Bischofssynode und der nationalen Bischofskonferenzen. Er will nicht mehr der alleinige Sprecher der Kirche sein.

Dies ist der neue Geist, den ich vom Lehramt schon immer erwartete. Ich bin überzeugt: Auch das Unfehlbarkeitsdogma, diese fundamentale Schicksalsfrage der katholischen Kirche, wird sich in diesem Geist endlich frei, unvoreingenommen und ergebnisoffen diskutieren lassen. Für diesen Freiraum gilt Papst Franziskus mein tief empfundener Dank. Ich verbinde ihn mit der Erwartung, dass sich die Bischöfe, Theologinnen und Theologen diesen Geist im Gespräch vorbehaltlos zu eigen machen und an der Lösung dieser Aufgabe im Sinne der Schrift und der großen kirchlichen Tradition mitarbeiten. (Hans Küng, 28.4.2016)