"Last Dream (On Earth)" vom Schottischen Nationaltheater.

Luciano Rossetti

Schaubühne-Produktion "Richard III" mit Lars Eidinger in der Titelrolle.

Phocus Agency

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Gewinner des Premio Europa 2016: Choreograf Mats Ek.

EPA/Juanjo Guillen

Während ganz Europa versucht, weniger nationalistisch zu denken, hat Schottland vor zehn Jahren ein Nationaltheater gegründet. Das hängt mit der Geschichte des Landes zusammen, welches bis 1999 sein Parlament im fernen London hatte und stets Pläne zur Abspaltung vom Königreich hegte. Die Mehrheit entschied 2014 bekanntlich dagegen. Ein Nationaltheater aber hat man mithilfe des neuen, eigenen Parlaments auf die Beine gestellt.

Für seine besonderen Leistungen bekam das National Theatre of Scotland (NTS) nun im Rahmen des Europäischen Theaterpreises eine der fünf Auszeichnungen für "Neue Realitäten am Theater" zugesprochen – neben Andreas Kriegenburg, Victor Bodó, Juan Mayorga und Joël Pommerat. Der Hauptpreis ging an den schwedischen Choreografen Mats Ek.

Das Nationaltheater Schottland sollte einst als großes repräsentatives Gebäude in der Hauptstadt Edinburgh erstehen, geworden ist es ein "theatre without walls", ein "Theater ohne Mauern", wie dessen Direktor Laurie Sansom begeistert betont. Wir wollten keine Konkurrenz zu den bereits bestehenden Theatergruppen etablieren, sondern im Gegenteil mit ihnen allen kooperieren, sagt er bei einem Panel-Gespräch in Craijova. Die 300.000-Einwohner-Stadt in der südlichen Walachei war bis Dienstagnacht Austragungsort des 15. Europäischen Theaterpreises (ETP).

Das NTS geht zu seinem Publikum, von den Shetland Inseln bis hinunter zu den Southern Uplands, es spielt direkt in Pubs oder auf Fähren. Der Preis ist ein schönes Signal für eine solch offene Form des Theaters. Mit ihrer leidenschaftlichen Präsentation haben die freundlichen Schotten das Publikum in Craijova auch im Sturm gewonnen.

Bewerbung für Kulturhauptstadt aufgegeben

Die von einem schmucken, noch in Renovierung befindlichen Altstadtteil geprägte Industriestadt stand auch auf der Bewerberliste für die rumänische Kulturhauptstadt 2021. Doch die Bestrebungen hat man angesichts der Konkurrenz und nach einem Skandal um getötete Straßenhunde aufgegeben. Das Geld ist sichtlich knapp, aus manchen Villenruinen wächst schon Gras. Und auch der Europäische Theaterpreis, der seit 1986 regelmäßig und unter der Schirmherrschaft der Europäischen Kommission von wechselnden Städten ausgetragen wird, fiel heuer schmäler aus als sonst.

Vor allem im Programm. Nicht von allen Ausgezeichneten konnten Produktionen vor Ort gezeigt werden. So waren Inszenierungen von Victor Bodó oder Joël Pommerat, dessen Erfolgsstück Die Wiedervereinigung der beiden Koreas diesen Freitag übrigens Premiere im Akademietheater feiert, einfach zu groß, um sie finanziell stemmen zu können. Man behalf sich mit Videoaufzeichnungen oder szenischen Anrissen im Foyer. Da hatte es das Nationaltheater Schottland gut getroffen: Das Stück Last Dream (On Earth), das die Meeresüberfahrt eines afrikanischen Flüchtlings mit der Weltraummission Juri Gagarins narrativ verschränkt, benötigte nur eine Videowand, ein Bandsetup und hunderte Kopfhörer. Denn die akustische Ebene der Inszenierung war ausschließlich über solche zu rezipieren: eine spannende, sehr filigrane Arbeit.

Die Gäste aus Deutschland ließen sich hingegen nicht lumpen. Sowohl Richard III von Thomas Ostermeier (er war gemeinsam mit Romeo Castellucci und dessen Julio César, fragmentos in der Kategorie "Returns" programmiert) als auch Andreas Kriegenburgs Nathan der Weise erwiesen sich als die ausstattungsstärksten Stücke.

Lars Eidinger brachte in der Titelrolle des verkrüppelten Richard im überfüllten Nationaltheater von Craijova das Publikum in Stimmung. Dafür waren auch schelmische Kommentare des Schaubühnenstars mitverantwortlich, die dieser, ganz im Adamskostüm, spontan an einen Smartphonekamerabenützer richtete: "Send me a copy, please. And I tell you a secret: It looks smaller on stage". Den Theater-Knigge legt das Publikum von Großveranstaltungen wie dem ETP gerne beiseite.

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Der viertägige Theaterkongress wurde auch zu einer Plattform für die Stärkung des brüchig gewordenen Europa-Gedankens. Der spanische Theatermacher Juan Mayorga, ebenfalls Preisträger, betonte das Verbindende des Theaters und appellierte an ein Europa, das mehr sein sollte als ein Wirtschaftsraum. In seinem Stück Reykjavik bezieht sich Mayorga auf das Schachduell zwischen Boris Spassky und Bobby Fischer 1972 während des Kalten Krieges, und macht daraus ein Spiel, das dazu einlädt, auch mal die Seite zu wechseln, ein anderer zu sein.

Der Hauptpreis dieses XV. Premio Europa (er wurde in den ersten Jahren in Italien ausgetragen) ging an den schwedischen Starchoreografen Mats Ek. Ek ist Sohn von Tänzerin Birgit Cullberg, Begründerin des berühmten Cullberg Balletts, und seit seiner durchschlagenden Giselle-Choreografie 1982 selbst eine Größe des modernen Balletts neben anderen Erneuerern wie William Forsythe oder Maurice Béjart. Der 71-Jährige wurde für sein Lebenswerk geehrt.

Es ist gut, dass die Wahl der Jury (u. a. Festwochen-Schauspielchefin Marina Davydova) auf Mats Ek fiel. Einerseits zeigt das Theater damit, dass es sich Erneuerungen aus anderen Sparten gegenüber offen zeigt. Andererseits gilt Ek als ein Künstler, der Frauenrollen auf der Bühne aufgewertet, ihnen Raum gegeben hat. Das ist erfreulich zu hören in einer ETP-Ausgabe, in der neun zu vergebende Preise an neun Männer gingen.

Mit diesen Verhältnissen wird sich der Europäische Theaterpreis in seiner näheren Zukunft beschäftigen müssen, um nicht als Altherrenverein zu enden. Dass der Hauptpreis von insgesamt fünfzehn Ausgaben bisher nur zwei Mal an eine Frau ging (Ariane Mnouchkine und Pina Bausch), ist noch weniger verwunderlich als die noch schlechtere Quote im Nachwuchssegment der "Neuen Realitäten". Aber vielleicht wollen Theaterschaffende wie Anna Viebrock, Angelica Liddell oder Andrea Breth da gar nicht mehr mitmachen.(Margarete Affenzeller aus Craijova, 28.4.2016)