Demonstrationen des säkularen Lagers in Istanbul und Ankara gab es gleich nach der Äußerung über die "religiöse Verfassung".

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Ankara/Athen – Eine Entsprechung für den Begriff "Bärendienst" gibt es im Türkischen nicht wirklich, was nicht heißt, dass sich Verbündete im stets aufgeheizten Politikbetrieb der Türkei nicht bisweilen unabsichtlich doch in die Bredouille bringen könnten. Ismail Kahraman hat seinen Freunden in der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP gerade einen solchen Bärendienst angetan – und zuallererst dem Staatschef, der eigentlich unparteiisch sein sollte, aber keinen Moment vergessen lässt, dass er die AKP gegründet hat und weiterhin lenkt.

"Wir sind ein muslimisches Land. Als Konsequenz müssen wir eine religiöse Verfassung haben", erklärte diese Woche İsmail Kahraman, der Parlamentspräsident und die Nummer drei im Staat nach Präsident und Premier. Kahraman ist ein Islamist und Vertrauter des Staatschefs Tayyip Erdoğan, mit dem er die Herkunft aus Rize am Schwarzen Meer teilt. Doch die Äußerung des 76-Jährigen war so absehbar schädlich, dass ausgerechnet Erdoğan und sein Premier Ahmet Davutoğlu rasch an die Öffentlichkeit gingen und das Prinzip der Trennung von Staat und Religion in der Türkei verteidigen mussten.

Projekt Referendum

Artikel 2 der Verfassung definiert die Türkei als "demokratischen, laizistischen und sozialen Rechtsstaat". Daran soll sich nichts ändern, beteuern Präsident und Regierungschef. Säkularismus bedeute, dass der Staat gleich weit entfernt von allen religiösen Gruppen sei, erklärte Erdoğan. "Auch von den Atheisten", fügte er hinzu. Die AKP habe er auf diesem Prinzip gegründet, sagte Erdoğan. "Atheisten" ist seine Umschreibung für die rebellische Jugend in der Türkei und für das Raki trinkende, mit der Armee verbundene alte Establishment, mit dem die AKP aufgeräumt hat.

An Zufälle aber glaubt niemand in der Türkei. Kahramans Äußerung über die "religiöse Verfassung" hat, so heißt es nun, wenn auch unabsichtlich, nur die wahren Wünsche der AKP offenbart. Kahraman, ein früherer Abgeordneter und Minister des Islamisten-Premiers Necmettin Erbakan in den 1990er-Jahren, war von Erdoğan im vergangenen Jahr in die Politik zurückgeholt worden. Kahraman erhielt bei den Parlamentswahlen im November den ersten Platz auf der Kandidatenliste der AKP in Istanbul. Als Parlamentspräsident leitete er dann den Verfassungsausschuss, der Erdoğan endlich das Präsidialsystem verschaffen würde.

Suche nach Mehrheiten

Der Ausschuss lebte nur drei Sitzungen lang. Im Februar zogen die Sozialdemokraten der CHP, der größten Oppositionspartei, im Streit über die Erdoğan-Verfassung aus. Autoritär und islamisch ist die neue Türkei, die Kahraman vorschwebt, so lässt sich jetzt mutmaßen.

Erdoğans Gefolgsleute aber stehen weiterhin vor demselben Problem: Die AKP hat zwar die absolute Mehrheit im Parlament, doch wenigstens 13 Abgeordnete fehlen ihr, um eine Präsidialverfassung schreiben zu können, über die dann in einem Referendum entschieden wird. Die Stimmen könnten von den rechtsgerichteten Nationalisten der MHP kommen. Deren Chef ist nach dem schwachen Abschneiden bei der November-Wahl in der eigenen Partei unter Druck und klammert sich an sein Amt. Das öffnet Raum für politischen Handel.

Haftstrafe für Kolumnisten

Noch steht das Prinzip der Laizität in der Verfassung, doch vor Gerichtsurteilen schützt es nicht mehr: Am Donnerstag wurden die "Cumhuriyet"-Kolumnisten Ceyda Karan und Hikmet Çetinkaya zu zwei Jahren Haft verurteilt. Sie hatten nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" im Jänner 2015 eine Mohammed-Karikatur klein über ihre Kolumne gestellt. (Markus Bernath, 28.4.2016)