Worum geht es bei der entscheidenden Stichwahl des österreichischen Bundespräsidenten am 22. Mai? Im ersten Wahlgang wurde die Regierung abgestraft. Vier von sechs Bewerbern, darunter die beiden Kandidaten der Koalition, sind ausgeschieden. Übriggeblieben sind zwei Bewerber, die aus Oppositionsparteien kommen. Das war gestern. Der Dampf ist abgelassen. Jetzt gilt es, mit kühlem Kopf rational für Österreich und seinen Platz in der Welt zu entscheiden.

Worum es jetzt geht, ist nicht pro oder contra Bundesregierung zu votieren. Es geht also nicht um eine parteipolitische Entscheidung, schon gar nicht um eine solche zwischen blau oder grün. Die Wahl ist eine Persönlichkeitswahl, bei der es um die fachliche Qualifikation der Kandidaten sowie um deren Vorstellung von einem modernen Österreich im Europa des 21. Jahrhunderts geht.

Der Bundespräsident vertritt unser Land kraft Verfassung nach außen und im Inneren wird seine moralische Autorität durch die Direktwahl seitens des Volkes legitimiert. Somit geht die Bedeutung des Bundespräsidenten weit über das Protokollarische hinaus. Die Direktwahl durch das Volk stellt auch eine Art Verpflichtung dar, zu einen, statt zu spalten. Der Bundespräsident ist also weder Frühstücksdirektor der Republik noch Überkanzler, der nach eigenem Gutdünken politisch schalten und walten kann. Beides wurde ja im Wahlkampf in den Raum gestellt. Auch deswegen sind die beiden Kandidaten im Lichte ihrer Aussagen und der Erwartungshaltungen ihrer Sympathisanten im In- und Ausland zu beurteilen.

Zwei Drittel der Wähler der letzten Nationalratswahl haben die beiden Oppositionsparteien, aus deren Reihen die zur Wahl stehenden Präsidentschaftskandidaten kommen, nicht gewählt. Diese Bürger werden die Bundespräsidentenwahl letztlich entscheiden, die zu Recht als Zäsur empfunden wird. Zum ersten Mal seit 1945 wird ein Staatsoberhaupt, das nicht von SPÖ oder ÖVP aufgestellt worden ist, in die Hofburg einziehen. Das ist demokratiepolitisch völlig normal und stellt keinen Anlass zur Beunruhigung dar.

Nach zwei Weltkriegen hat Europa einen Integrationsprozess initiiert, der – ausgehend von der Wirtschaft – längst zu einem Friedensprojekt geworden ist. Die Tatsache, dass man aus der blutigen Geschichte dieses Kontinentes gelernt hat, wird im Moment durch Krisensymptome überdeckt (Stichwörter: Euro und Migration), die in vielen Ländern einen neuen Nationalismus sprießen lassen. Deren Repräsentanten am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums sehen sich bereits "in der Mitte der Gesellschaft" angekommen. Innerhalb der EU agieren sie konzertiert, wie sich das für Nationalisten gehört, gegen jede weitere Integration, was auf eine Blockade hinausläuft, die man im selben Atemzug in den eigenen Ländern als "Entscheidungsunfähigkeit der EU" denunzieren kann.

Ohne die aktuellen Krisensymptome schönreden zu wollen, muss doch daran erinnert werden, dass die EU bisher aus jeder ihrer Krisen gestärkt hervorgegangen ist. Natürlich muss die EU sich einem permanenten Reformprozess stellen. Sie zu schwächen oder durch Subversion von innen her zu zerstören, wäre hingegen politisch nicht nur kontraproduktiv, sondern im höchsten Maße gefährlich. Das gilt auch für die Interessen Österreichs.

Ein Zerfall Europas in Nationalstaaten würde für die Wirtschaft einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil gegenüber Asien und Amerika bedeuten. Politisch würde es auf unserem Kontinent das Ausbrechen neuer Konflikte bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen begünstigen. Es hat des amerikanischen Präsidenten Barack Obama bedurft, der bei seiner jüngsten Europareise die Staatenlenker unseres Kontinentes an all das erinnert hat.

"Gutmenschen" denunzieren

Mit "Ausländer raus"-Parolen, der Gleichsetzung aller Moslems mit islamistischen Terroristen, dem Schließen der Grenzen, dem Abschotten gegen alles Fremde, dem Schüren von Hass auf Minderheiten und dem Denunzieren von Andersdenkenden als "Gutmenschen", sind Probleme im Zeitalter der Globalisierung nicht zu lösen. Wohl aber lässt sich mit Appellen an die niederen Instinkte, die es von jeher in jeder Gesellschaft gibt, trefflich Stimmung machen. Auch hier verrät die Sprache dahinterstehende Motive, die gewiss keine edlen sind.

Auf der anderen Seite haben in Österreich Vertreter aller Parteien einen Beitrag zu europäischer Gesinnung geleistet. Die Freiheitlichen waren die Ersten, die sich für die europäische Integration eingesetzt haben, Sozialdemokraten und Volkspartei haben Österreich in die EU geführt und aus den Grünen sind überzeugte Europäer geworden. Dieser Weg war für unser Land von großem Vorteil, wirtschaftlich wie politisch. Schließlich hat uns die Mitgliedschaft in der EU zu Reformen verpflichtet, die wir sonst kaum auf den Weg gebracht hätten. Trotz aller aktuellen Probleme: Wir brauchen mehr, nicht weniger Europa.

All dies gilt es bei der bevorstehenden Wahlentscheidung zu bedenken, bei der aber kein "Machthaber" zu küren ist, denn die politische "Macht" liegt in der Demokratie beim frei gewählten Parlament. Viele Gespräche mit Mitbürgern zeigen, dass dieser Meinungsbildungsprozess in vollem Gange ist, was zu einer stärkeren Wahlbeteiligung führen sollte.

Als europäisch denkender Österreicher ist man gefordert, diese Herausforderung anzunehmen. Was immer man in der Vergangenheit gewählt haben mag: Jetzt geht es nicht um eine parteipolitische, wohl aber um eine staatspolitische Richtungsentscheidung, bei der man notfalls auch über den eigenen politischen Schatten springen muss. Bei der Bundespräsidentenwahl ist es völlig egal, wer sympathischer aussieht, jünger oder älter, linker, liberaler oder konservativer ist.

Es geht ausschließlich darum, wer bei der gegebenen personellen Alternative eher geeignet ist, im Inneren integrativ zu wirken und Österreich nach außen als weltoffenes Land im Herzen Europas zu vertreten. Bei der Entscheidungsfindung mag es hilfreich sein, zu beachten, wer die Unterstützer der beiden Kandidaten sind und welche Erwartungen sie mit deren Wahl verbinden. Nichtwählen impliziert das große Risiko, am Abend des 22. Mai einen Bundespräsidenten zu haben, den man sich nicht gewünscht hat und über dessen Amtsführung man sich noch wundern wird. (Johannes Kunz, 29.4.2016)