Wien – Wer ein "fleißiger Taugenichts" werden möchte, kann nicht zeitig genug damit anfangen, wenig zu leisten. André Hellers erster umfangreicher Roman heißt Das Buch vom Süden. In ihm sucht der Sohn eines stellvertretenden Wiener Museumsdirektors einen Weg nach draußen. Julian Passauer lautet der Name unseres Helden. Mit seinem Autor und Urheber teilt er womöglich mehr als nur die Vorliebe für Bildungsgüter. Dass ihn seine Lebensreise ausgerechnet an den schönen Gardasee führt, darf füglich als autobiografischer Reflex des Verfassers aufgefasst werden.
Passauer ist, um es im Duktus dieses erstaunlichen Buches zu sagen, ein Bummelstudent. Inskribiert hat er die Künste des Lebens. Mehr noch als die Sachen selbst interessiert ihn deren Prestige. Aussicht auf ein gelingendes Leben besitzt derjenige, der kostbare Namen im Mund führt. Brahms. Hermann Leopoldi. Der Gott, der mutmaßlich den "Geruch in den Haaren" von Julians Mutter geschaffen hat.
Der Schauplatz von Julians Jugend ist eine Beamtenwohnung im Schloss Schönbrunn. Kaum hat er das Licht der Welt erblickt, findet der Bub aus dem Staunen nicht heraus. Er begegnet Figuren, die sofort sein Herz erweichen und ihn auf die Seite der Poesie ziehen. "Hauswüstlinge" sind solche Gestalten, "Warzenkönige", ein Hausarzt, der kleinen Patienten herzlich zum "Speiben" gratuliert. Hellers beschauliches Nachkriegswien ist nichts als ein sehr frommer Wunsch. Durch diesen Nichtort geistern Joseph Roth und Anton Kuh. "Obergärtnersfrauen" huschen durchs Bild, und sie scheinen allen Ernstes "duftmäßig an Wunderbarem zu halten", was sich Klein-Julian von ihnen olfaktorisch verspricht. Reminiszenzen an den Naziterror finden sich ebenso, aber sie wirken pflichtschuldig einmontiert in dieses Sammelsurium kleiner und kleinster Weltwunder.
Verwunschene Plätzchen
Wien um 1960 ist ein wahrhaft verwunschenes Plätzchen. Politik wird man hier nicht finden. Eher schon obwaltet hier der wache Geist derer, die um einer kleinen Pointe willen den Gedanken ans Große lieber sein lassen. Julians geistiger Mentor ist ein gewisser Graf Eltz. Dessen Karriere als Weltklasseschwimmer lässt naturgemäß an ein Vorbild namens Friedrich Torberg denken. Der Herr Graf sucht nicht nach Erklärungen, er behält gleich selber recht. Er sagt Sachen wie: "Ich versteh' im Grunde schon das nicht, was ich versteh', geschweige denn das, was ich nicht versteh'."
Julians Wien ist keine Versuchsstation des Weltuntergangs. Dazu köchelt viel zu gemütlich die Suppe, die sich seine Einwohner selbst eingebrockt haben. Die wahren Pädagogen des Julian Passauer sind Gestalten wie Torberg, wie Gregor von Rezzori. Man verlacht die Unzulänglichkeiten, die das heimische Leben unerträglich machen. Man hat ja nichts zu sagen, aber man besitzt Stil genug, es wenigstens schön auszudrücken. Endlich erwacht unser Held aus der Rolle des frühreifen, früh vergreisten Schöngeists.
Knapp vor Erlangung der Reife zertrümmert er im Zustand des Außersichseins das elterliche Badezimmer. Mit dieser verstörenden Zäsur gelangt Julian in eine neue Umlaufbahn. Eine Afrika-Umfahrung ist Heller etwa zwei Buchseiten wert. Passauer wird, wie so viele Fernreisende vor ihm, ein "Weltensammler". Er lässt sich von einem Portugiesen (einem Herrn "Ruhigblütl") in der Kunst des professionellen Spielens unterweisen. Irgendwann ist auch damit Schluss. Die Duftorgien der Gardasee-Villen warten bereits auf Julian. Das Buch vom Süden ist nicht so sehr ein Erziehungsroman. Als ein solcher beginnt es groß orchestriert. Auf weiten Strecken verbirgt sich hinter André Hellers Romanerstling aber ein Ratgeberbuch mit der Aufforderung, sich mit wohlriechenden Pflanzen zu umgeben, um seelischen Verspannungen vorzubeugen.
Der Stadt- liegt eigentlich ein Konzept der Weltflucht zugrunde. In die hermetischen Gärten des Julian Passauer findet die schmutzige Welt keinen Einlass. Das beschreibt zugleich auch ihr Manko. Gefährtinnen aus der Vogue irren durch eine Welt ohne Erschmecktes, Errochenes, genuin Gesehenes. Julians Erziehung ist noch nicht abgeschlossen. Sie sollte aber nicht bei Torberg begonnen haben, um bei Paulo Coelho wieder zu versanden. (Ronald Pohl, 30.4.2016)