Tayyip Erdoğan dirigiert sein ganzes Land.

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Mustafa Hoş, der bisher letzte bestsellende Erdoğan-Biograf in der Türkei, steht wegen seines Werks schon seit einem Jahr vor Gericht. Die Anwälte des Präsidenten haben etwas Ehrenrühriges in dem schmalen Band "Big Boss" des "Cumhuriyet"-Journalisten gefunden.

Hoşs türkischstämmige deutsche Kollegin Çiğdem Akyol läuft dagegen kaum Gefahr, für ihre Biografie vor Gericht gezerrt zu werden: Vor Polemik hütet sich die Istanbuler Korrespondentin, und für aufsehenerregende Neuheiten über Recep Tayyip Erdoğan wiederum ist die journalistische Arbeit in der Türkei viel zu schwierig geworden. Keiner will mehr reden.

Schwierige Ausgangslage

Man erfährt deshalb in Akyols jüngst erschienener Biografie nichts über den engsten Zirkel des Chefs im Präsidentenpalast; nichts über Binali Yıldırım, den Vertrauten und potenziell nächsten Regierungschef; oder Ibrahim Kalin, den langjährigen außenpolitischen Berater und jetzigen Präsidentensprecher. Und schon gar nichts über das, was im Kopf des so machtversessenen Politikers vor sich geht, wie er seine Arbeit organisiert und sich im persönlichen Gespräch gibt. Erdoğan gewährt kaum noch Interviews.

Am Zenit der Macht

Doch zu den Ungewöhnlichkeiten der Person Erdoğan gehört schon einmal, dass im Ausland praktische keine Biografien des wohl bedeutendsten türkischen Politikers seit dem Republikgründer Kemal Atatürk geschrieben worden sind. Erst seit seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2014 erschien im englischsprachigen Raum das eine oder andere Buch.

Akyols Erdoğan-Biografie ist die erste, die auf Deutsch erhältlich ist. Und sie hat den Vorteil, ein Politikerleben zu umspannen, das seinen Zenit erreicht hat. Erdoğan überrascht niemanden mehr. Man weiß, was kommt. Die Frage "Reformer oder Islamist?" scheint beantwortet. "Die Wahrheit liegt in der Mitte", schreibt Akyol. "Der Machtmensch Erdoğan in seiner Zielstrebigkeit weiß, wie er sich geben muss, um seine Ziele zu erreichen."

Psychologische Deutungen

Die ehemalige "Taz"-Redakteurin – sie berichtet jetzt unter anderem für die "Zeit" aus Istanbul – räumt der psychologischen Disposition Erdoğans großen Raum ein. "Die Enge von Kasimpaşa" heißt das Kapitel über Erdoğans Kindheit und Jugend in dem fromm-konservativen Arbeiterviertel am Goldenen Horn. Ein Narziss und ein Verführer sei Erdoğan, unaufhörlich erwarte er Bewunderung.

Flüchtigkeitsfehler wie jener von Abdullah Güls "zweiter Amtszeit" (der AKP-Politiker und Staatspräsident hatte nur eine Amtszeit, von 2007 bis 2014, eine zweite verwehrte ihm Erdoğan) schmälern nicht dieses gut lesbare Buch über die jüngste türkische Geschichte und ihren prägendsten Akteur. (Markus Bernath, 2.5.2016)