Die Welle der Empörung reicht von links bis weit rechts. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat am Montagvormittag die TTIP-Verhandlungspapiere auf ihrer Webseite veröffentlicht. Die Unterlagen belegen in den Augen der NGO, wie die USA den Verbraucher- und Umweltschutz in Europa mit dem geplanten Freihandelsabkommen aushöhlen wollen.
Die Grünen forderten einen sofortigen Abbruch der TTIP-Gespräche. SPÖ-Europaabgeordnete sprachen von einem Angriff auf "Demokratie und Verbraucherrechte". Attac und Global 2000 sahen ihre schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen. Aber es schalteten sich auch das Team Stronach und die FPÖ ein, deren Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer seine Vetodrohung gegen TTIP erneuerte.
Frage des Blickwinkels
Aber was lässt sich aus den Greenpeace-Papieren herauslesen, ist die Aufregung berechtigt? Darauf gibt es zwei Antworten: Ja, wenn man schon bisher der Ansicht war, TTIP sei etwas ganz Gefährliches. Nein, wenn man die Aufregung um das Abkommen für übertrieben hält.
Greenpeace hat 13 teilweise fertige Kapitel des Vertrags veröffentlicht. Darunter sind jene zu den Themen Landwirtschaft, Dienstleistungen oder Kooperation in Regulierungsfragen. Hinzu kommt noch ein Positionspapier der EU zum Stand der Verhandlungen.
Steine des Anstoßes
Greenpeace und andere NGOs lesen aus den Papieren heraus, dass die USA das Vorsorgeprinzip in Europa aushebeln werden. Dieses Prinzip besagt, dass Produkte verboten werden dürfen, wenn wissenschaftlich nicht erwiesen ist, dass sie gefährlich sind. In den USA gilt hingegen das Risikoprinzip: Eine Behörde muss nachweisen, dass eine Substanz gefährlich ist, um sie zu verbieten.
Ein Beispiel aus der Praxis: In der Landwirtschaft wird das Mittel Diphenylamin (DPA) zur Behandlung von Äpfeln eingesetzt, damit diese nicht braun werden. In den USA ist DPA erlaubt. In Europa dagegen gibt es ein Importverbot für DPA-behandelte Äpfel, weil befürchtet wird, dass beim Kontakt der Chemikalie mit Luft krebserregende Stoffe entstehen.
Wissenschaftliche Beweise
In den Greenpeace-Papieren findet sich kein direkter Hinweis darauf, dass das Vorsorgeprinzip in der EU fallen soll. In dem Kapitel über sanitäre und phytosanitäre Maßnahmen in Viehzucht und Landwirtschaft wird aber ein halbes Dutzend Mal erwähnt, dass Behörden künftig auf Basis "relevanter wissenschaftlicher Beweise" entscheiden müssen, ob sie ein Produkt zulassen oder nicht.
Der vielfache Hinweis auf Wissenschaftlichkeit ist für Joachim Thaler, den TTIP-Experten bei Greenpeace, ein klarer Beleg dafür, dass das Vorsorgeprinzip in Gefahr ist, sowohl bei chemischen Produkten als auch bei gentechnisch veränderten Lebensmitteln. "Es geht nicht um eine Abschaffung mit einem Streich", sagt er, "aber mit TTIP kommt das Modell in Europa unter einen ungemein stärkeren Rechtfertigungsdruck."
Weitere Vertiefung
Die Sichtweise bestimmt auch, wie man das Kapitel über regulatorische Zusammenarbeit liest. Die EU und die USA wollen, dass TTIP ein lebendes Abkommen wird. Auch nach Abschluss des Vertrages soll geschaut werden, wo "unnötige" Handelshemmnisse existieren. In den Greenpeace-Dokumenten klingt das unaufgeregt: EU-Kommission und US-Regierung verpflichten sich, einander einmal pro Jahr über relevante Gesetzesvorhaben zu informieren. Die EU sagt zu, Stellungnahmen von US-Unternehmen zu geplanten Gesetzen anzuhören.
Beide Seiten richten ein Kontaktbüro ein, um den Meinungsaustausch zu forcieren. Zudem wird eine neue Behörde, die Regulatory Cooperation Body (RCB), geschaffen. Die RCB darf keine Rechtsakte erlassen, sondern nur Vorschläge machen, die den Freihandel fördern. Thaler von Greenpeace sieht damit Tür und Tor für die stärkere Einflussnahme der US-Konzerne in Europa geöffnet. Die US-Unternehmen bekommen eine neue "Lobbymöglichkeit", sagt er, während auf Umwelt- und Sozialorganisationen nicht eingegangen werde. Die Priorität der Aufseher werde sich verschieben.
Agraröffnung gefordert
Für Wirbel sorgen aber auch Passagen aus dem erwähnten Positionspapier, in dem die EU-Kommission den Verhandlungsstand zusammenfasst. So gibt es einen allgemeinen Hinweis darauf, dass die USA Exporterleichterungen für die europäische Autoindustrie nur dann zustimmen, wenn die EU mehr US-Agrarprodukte nimmt. NGOs sprechen deshalb von einem Erpressungsversuch.
Hinzu kommt der Streit über die Investitionsschiedsgerichte: Die EU hat ja vorgeschlagen, das System der Schiedsgerichte zu reformieren. So sollen künftig Berufungen gegen Entscheidungen der Tribunale erlaubt sein. Die USA erwärmen sich für diese Idee nicht – in den Greenpeace-Papieren steht, dass über das neue Konzept der Europäer im Detail noch nicht verhandelt wurde. (András Szigetvari, 2.5.2016)