Hikmet Çetinkaya und Ceyda Karan hatten das Titelblatt von "Charlie Hebdo" unspektakulär auch als Bild zitiert.

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Wien – Stellen wir uns vor: Irgendwo auf der Welt weint ein Gott, der sich Sorgen um die substanziellen demokratiepolitischen Werte Presse- und Informationsfreiheit macht. Vielleicht gibt es tatsächlich einen solchen – soll sein: auch selbsternannten – überhöhten Herrn. Er muss ja nicht gerade in der Türkei angesiedelt sein. Dort ist Pressefreiheit derzeit bekanntlich weniger denn je gefragt, und Götter dürfen dort nicht weinen.

Im europäischen Ranking nimmt die Türkei nach Weißrussland und sogar noch vor Russland Platz zwei jener Länder ein, in denen die Medien- und die Informationsfreiheit prinzipiell missachtet wird. Im jüngsten Ranking von Reporter ohne Grenzen ist die Türkei mit Rang 151 von 180 analysierten Staaten unter den Schlusslichtern angesiedelt. Schon jetzt spricht alles dafür, dass das Land im kommenden Jahr weiter abrutschen wird.

Zweijährige Freiheitsstrafen

Sozusagen zeitgerecht und als "Auftakt" zum internationalen Tag der Pressefreiheit am 3. Mai wurden nun in Istanbul in erster Instanz die angesehene Journalistin Ceyda Karan und ihr Kollege Hikmet Çetinkaya zu zweijährigen Freiheitsstrafen wegen angeblichen Schürens von Hass und Feindseligkeiten verurteilt. Karan und Çetinkaya sind bei den Lesern überaus beliebte Kolumnisten der traditionellen "links-kemalistischen" Tageszeitung "Cumhuriyet".

Beide hatten Anfang des Jahres 2015 in ihren Kolumnen das islamistische Attentat auf die Pariser Redaktion des französischen Satireblatts "Charlie Hebdo" kommentiert. Zwölf Menschen wurden damals ermordet. Mächtige Spitzenpolitikerinnen und führende Politiker aus aller Welt trafen sich wenige Tage später in Paris, um gemeinsam zu bekennen: "Je suis Charlie". Die internationale politische Elite war erschüttert, nicht nur in Paris weinten die Menschen. Die Tränen aller galten den Ermordeten und dem entsetzlichen Anschlag auf die Basiselemente unserer heutigen Demokratien: Presse-, Medien- und Informationsfreiheit.

Unter dem Titel "Alles ist vergeben" machte in der darauffolgenden Woche "Charlie Hebdo" mit der Zeichnung eines Mannes mit Turban auf, dessen rechtem Augenwinkel eine Träne entrinnt und der ein "Je suis Charlie"-Schild hält. Als Blasphemie und Gotteslästerung wurde dies vielerorts im heutigen muslimischen Morgenland interpretiert. Warum eigentlich? Darf ein Gott nicht weinen?

Karan und Çetinkaya hatten das Titelblatt von "Charlie Hebdo" unspektakulär auch als Bild zitiert. Der türkischen "Pressepolizei", die täglich alle Printmedien-Ausgaben vor deren Auslieferung kontrolliert, war dies nicht aufgefallen, die Ausgabe ging in den Vertrieb, erschien auf dem Markt. Auch so etwas kann in einem scheinbar durch und durch kontrollierten System passieren. Selbst bei einer Zeitung wie "Cumhuriyet", die inzwischen per se verdächtig ist.

Strafanzeige

Heute ist "Cumhuriyet" die Zeitung kritischer, intellektueller Eliten. Gegründet wurde sie vor 92 Jahren. Ein Jahr zuvor, 1923, hatte Kemal Atatürk begonnen, als "Vater" der modernen Türkei das Land Richtung Westen zu orientieren. Damals wurde der Staat säkularisiert, die osmanische Schrift durch die lateinische ersetzt, der Wortschatz "internationalisiert", Fez und Schleier waren fortan – weil äußerliche Symbole einer vergangenen, religiös-despotischen Welt – strikt verboten.

Erst kürzlich wurden Chefredakteur Can Dündar und der Leiter des Ankara-Büros, Erdem Gül, in erster Instanz zu lebenslanger Haft verurteilt. "Cumhuriyet" hatte Ende Mai 2015 trotz behördlicher Nachrichtensperre über türkische Waffenlieferungen an den IS in Syrien berichtet. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan persönlich hatte deshalb eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Spionage eingebracht und lebenslange Haft gefordert. Der Präsident sprach von Beleidigung und übler Nachrede gegenüber dem Geheimdienst und drohte damals öffentlich, Dündar werde einen "hohen Preis" für die Berichte zu zahlen haben. Den Worten folgte das entsprechende Urteil.

Berufung

Auch die Journalistin Karan wird gegen das über sie verhängte Urteil Berufung einlegen. Auf Twitter kündigt sie an: "Wir werden das Land nicht in islamischen Gewändern gekleideten Faschisten überlassen." Sie weiß, dass tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen ohne Korrektive wie freie Medien kaum rückgängig zu machen sind. Dass eine Gesellschaft für lange, lange Zeit in dumpfem politisch-religiösem Konservatismus gehalten werden kann.

Am 1. Mai kam es zu brutalen Zusammenstößen zwischen regierungskritischen Demonstranten und der Polizei. In Istanbul waren 24.500 Polizisten, 120 Wasserwerfer und mehrere Hubschrauber eingesetzt worden. 207 sollen festgenommen worden sein. Ein Mann, der nur eine Straße überqueren wollte, wurde von einem Wasserwerfer angefahren und tödlich verletzt.

Karan ist sich jedoch sicher, dass sie trotz des neuen Terrors und trotz ihres Urteils vorübergehend nach Wien ausreisen darf. Am 3. Mai um 19 Uhr spreche ich mit ihr an der Fachhochschule Wien über die Mediensituation in der Türkei.

Und was passiert, wenn Ceyda Karan doch nicht ausreisen darf? Dann gedenken wir an diesem Tag der Pressefreiheit gemeinsam der prekären Situation von Journalistinnen und Journalisten in der Türkei. Auch ein solches Gedenken braucht das Kommen und die Solidarität von uns allen. (Rubina Möhring, 3.5.2016)