Es fühlt sich an wie in der Kindheit, wenn am Heiligen Abend die Vorfreude auf die Bescherung so groß wurde, dass das Herz laut zu klopfen begann und die Handflächen feucht wurden – und jede Sekunde eine Ewigkeit zu dauern schien. Die Baustellengitter klappern im Wind. Die Straßenlaternen tauchen den Asphalt in gelbliches Licht. Es ist kalt.

Und dann hat das Warten plötzlich ein Ende. Rasch ein Sprung – nicht sehr elegant, aber zielführend – vorbei an Betonmischgeräten und aufgetürmten Stahlbalken. Ein letzter Blick nach links und rechts – sieht auch wirklich niemand zu? Dann steil bergab. Die Schuhsohlen rutschen, die Hände suchen nach Halt. Der Atem ist kurz, der Adrenalinpegel hoch, und in den Ohren pocht laut der Puls.

Auf Stadterkundung in Wien mit den 78ern.
Sarah Brugner, Michael Luger

Ehrfürchtig stehen Inga*, Igor* und Olaf* schließlich im Wiener U-Bahn-Schacht. Sie sind gekommen, um einen Blick hinter die Kulissen des städtischen Alltags zu werfen, um fotografisch zu dokumentieren, was vielleicht schon morgen nicht mehr existieren wird. Die drei sind Urban Explorer. Sie suchen in ihrer Freizeit verlassene Orte in Wien auf, betreten verfallene Häuser und leerstehende Fabriken, begeben sich in U-Bahn-Tunnel und die Kanalisation und steigen auf Häuserdächer, Kräne oder Flaktürme. Sie sind unterwegs, so oft es ihnen die Zeit erlaubt – manchmal nur alle paar Monate, dann wieder mehrmals in der Woche. Seit 2012 lassen sie unter dem Namen "Die 78er – Institut für Stadterkundung" die Öffentlichkeit an ihren Touren teilhaben: Sie stellen anonymisiert Bilder der von ihnen besuchten urbanen Szenerien ins Netz.

"Die Stadt wird zu einem wunderbaren Spielplatz."

Es steckt ein kindlicher Entdeckungsdrang dahinter, ein Bedürfnis, die Welt, die einen umgibt, zu erforschen und zu verstehen. "Die Stadt wird zu einem wunderbaren Spielplatz, und darin zu spielen erscheint wie ein amüsantes, herausforderndes Abenteuer", schrieb Jeff Chapman alias "Ninjalicious" in seinem Handbuch "Access All Areas – A User's Guide to the Art of Urban Exploration". Der 2005 verstorbene Kanadier und Gründer des Magazins "Infiltration" gilt als Pionier des Phänomens, das in Städten weltweit Verbreitung findet.

Place Hacking in Wien.
Die 78er

In seinem Handbuch befasst sich Chapman unter anderem mit der richtigen Vorbereitung auf die Stadterkundung, der Vorabrecherche, der passenden Bekleidung sowie Sicherheitsfragen. Mit einem Augenzwinkern rät der zu Lebzeiten selbst leidenschaftliche Urban Explorer zum Beispiel, mit dem Rauchen aufzuhören. Denn Raucher könnten ihrer Gruppe eine Reihe von Schwierigkeiten bereiten, argumentiert er: Sie könnten schneller außer Atem geraten. Sie könnten durch Zigarettenstummel oder Asche Spuren hinterlassen oder gar einen Brand verursachen. Sie könnten im falschen Augenblick husten. Und der aufsteigende Rauch sei ihrer "Verstohlenheit" hinderlich.

Ziel sei, "gesehen, aber ignoriert" zu werden.

Dem "Einschleichen" und dem "verstohlenen Fortbewegen" widmet sich Chapman ausführlich. In Anlehnung an sein Pseudonym Ninjalicious beschreibt er, wie viel Spaß es machen könne, "sich wie ein Ninja fortzubewegen", führt aber schließlich aus, dass es mehr Sinn mache, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Das Ziel sei, so aufzutreten, dass man "gesehen, aber ignoriert" wird. Chapmans Idee von Urban Exploration geht über das Einsteigen in Gebäude und Infrastruktur hinaus. Er gibt etwa auch Ratschläge, wie man am besten auf eine "schicke Party" gelangen kann, zu der man nicht eingeladen wurde.

Place Hacking in London: Interview mit Bradley L. Garrett.
derstandard.at/luger

Es mache Spaß, sich Strategien zu überlegen, befinden die 78er: "Irgendwann merkst du, dass alles möglich ist", und dann "juckt es in den Fingern". Sie seien gar nicht mehr fähig, sich durch die Stadt zu bewegen, ohne sie unwillkürlich "zu scannen": Von verschlossenen Türen, schief hängenden Fensterjalousien und neuen Baustellenkränen fühlen sie sich angezogen wie Motten vom Licht. Urban Exploration, auch Place Hacking genannt, ist für Olaf mit einem Gefühl von Freiheit verbunden, aufregend und entspannend zugleich: "Man betritt Orte, die man nicht betreten soll, und entkommt dabei dem städtischen Trubel."

"Wir holen uns etwas zurück."

Er habe dabei erstmals das Gefühl gehabt, Kontrolle über sein Leben zu haben, sagt Bradley L. Garrett. Der Dozent für Geografie an der Universität von Southampton in Großbritannien begleitete für seine Doktorarbeit Explorer von London, Berlin und Paris über Chicago bis Los Angeles und verfiel der Aktivität schließlich selbst. Das Alltagsleben in der Stadt werde von Entscheidungen bestimmt, "die jemand anderer für uns trifft". Bei Urban Exploration gehe es um die Freiheit, alle Entscheidungen – "auch die falschen" – selbst in der Hand zu haben.

Blick über die Dächer Londons.
Bradley L. Garrett

Garrett begreift Urban Exploration als politischen Akt: Durch das unbefugte Betreten eigne man sich den Freiraum an und stelle die Machtverhältnisse zwischen Stadtregierung, Behörden und Bewohnern im öffentlichen Raum infrage. "Wir holen uns etwas zurück, von dem wir nicht wussten, dass wir es verloren hatten", schreibt er in seinem Buch "Explore Everything – Place-Hacking the City".

Das Phänomen stoße auf viel Interesse, die meisten Menschen würden aber nicht selbst Explorer werden wollen, sagt Garrett im Gespräch mit dem STANDARD. "Sie wollen die Stadt allein durch das Betrachten der Fotos neu denken." Das, so hofft er, werde den einen oder anderen zumindest dazu motivieren, sich den Freiraum etwa durch das Errichten eines Skateparks oder das Anlegen eines Gemeinschaftsgartens anzueignen.

Wo waren die 78er?
Die 78er

Die Zahl der Urban Explorer schätzt Garrett für London auf 100 bis 200. Die Szene in Wien ist kleiner: "Es gibt eine Handvoll, die das ernsthaft betreiben", sagen die 78er Inga, Igor und Olaf.

Die urbanen Entdeckungstouren seien nicht immer nur aufregend. Man müsse auch darauf gefasst sein, dass man etwa im Dunkeln durch einen Bodenbelag aus Kot und toten Tauben waten muss. Die Leute würden die Fotos sehen und sich denken: "Was die alles erleben!" Es brauche aber vor allem viel Geduld. Die potenziellen Erkundungsstätten müssen vor dem eigentlichen Betreten erst einmal ausgeforscht werden: Ist es überhaupt möglich, dorthin zu gelangen? Gibt es eine Einstiegsstelle? Ist es sicher? Ist neben der Standardausrüstung – Handschuhe, Taschenlampe und Golfer-Fernrohr – weiteres Equipment nötig?

Im "versteckten Fluss" Effra in London, England.
Foto: Bradley L. Garrett

Die 78er gehen sehr vorsichtig vor. Sie vergewissern sich vorab der möglichen Gefahren und betreten die Örtlichkeiten nur, wenn sie dabei ein gutes Gefühl haben und sich auch körperlich fit fühlen. Sie alle hätten Grenzen, an denen es heißt, "Das geht zu weit", und würden diese respektieren. Olaf habe anfangs mit seiner Höhenangst zu kämpfen gehabt. Die Knie hätten ihm beim Versuch, eine Leiter oder gar einen Kran emporzusteigen, geschlottert. Er habe sich davon aber nicht abhalten lassen wollen, denn er "habe Blut geleckt", wie er über seine Faszination an Urban Exploration sagt. Mittlerweile habe er seine Höhenangst weitgehend überwunden – es sei eine Frage der Gewohnheit gewesen.

Im Londoner Untergrund bei der Station Aldwych in der City of Westminster.
Bradley L. Garrett

Nicht alle handeln so überlegt. Waghalsige Stunts sind verbreitet – etwa beim Roofing, einem verwandten Phänomen, bei dem es darum geht, Höhen zu erklimmen. Und manch einer knipst dann gerne ein Selfie, während er sich an einem Arm von der Dachkante eines Wolkenkratzers oder von einem Kranausleger hinunterhängen lässt. "Was soll das bringen?", fragt Inga. "Es geht um die Plätze, nicht um uns." Igor sieht es pragmatisch: "Am Ausleger kann ich das Stativ nicht abstellen."

Take nothing but pictures, leave nothing but footprints.

Die 78er gehen respektvoll mit den Stätten um, die sie erkunden. Sie lassen nichts zurück, machen nichts kaputt. Damit das auch sonst niemand tun kann, verraten sie meist nicht genau, wo ihre Fotos entstanden sind. Sie halten sich an den inoffiziellen Kodex der Urban Explorer, dem sich auch Pionier Ninjalicious verpflichtet fühlte: Take nothing but pictures, leave nothing but footprints (Mache nichts außer Fotos, hinterlasse nichts außer Fußabdrücke). In "Access All Areas" schreibt er, dass sich Explorer "normalerweise besser benehmen, rücksichtsvoller und höflicher" seien als die meisten anderen Menschen. Auch Einbrechen ist tabu. Das wäre aber ohnehin nicht nötig, sagt 78er Igor. Man müsse nur die Geduld aufbringen, an allen vorhandenen Türen zu rütteln, "eine wird immer offen sein".

Die 78er im "städtischen Spielplatz".
Die 78er

Bei den Sicherheitsvorkehrungen gebe es in Wien eine "gewisse Gelassenheit". Das sei in Städten wie London, wo zudem die Videoüberwachung weit stärker ausgebaut ist, anders, wie auch Garrett bestätigt. Trotzdem achten die 78er immer genau darauf, von niemandem beobachtet zu werden. Einmal habe ihn die Polizei erwischt, erzählt Igor. Diese habe aber zunächst "gar nicht gewusst, was sie mit mir anfangen soll". Schließlich habe er eine geringe Verwaltungsstrafe zahlen müssen.

"Wir schauen nur und sind bald wieder verschwunden."

Urban Exploration fällt in einen rechtlichen Graubereich. Wird beim Betreten eines Geländes eine Tür oder ein Zaun beschädigt, fällt das nur dann unter Sachbeschädigung, wenn dabei vorsätzlich gehandelt wurde. Andernfalls ist das Betreten "strafrechtlich nicht verfolgbar", sagt ein Polizeisprecher zum STANDARD. Es trete das Privatrecht in Kraft: Geschädigte können mit einer Besitzstörungsklage vorgehen.

Eine verlassene U-Bahn-Station in London.
Bradley L. Garrett

Es sei ihnen bewusst, dass das, was sie tun, meistens nicht erlaubt ist, sagen die 78er. Sie würden aber niemandem damit schaden, denn "wir schauen ja nur und sind bald wieder verschwunden".

"Habt ihr schon dort hineingesehen?", fragt Olaf mit leuchtenden Augen und zeigt an der Stromschiene vorbei nach hinten in den U-Bahn-Tunnel. Bagger und schwere Gerätschaften stehen in der künftigen Haltestelle der U1. Mobile Toiletten, halbleere Getränkeflaschen und zerknüllte Jausensackerl zeugen von einer tagsüber geschäftigen Unterwelt. Igor und Inga kennen den Raum bereits, aber sie sehen ihn sich gerne wieder an. Sie zücken die Kameras – vielleicht hat sich ja seit dem letzten Besuch etwas verändert, das es festzuhalten gilt. (Text und Produktion: Christa Minkin | Videos: Sarah Brugner, Michael Luger | Fotos: Die 78er, Bradley L. Garrett)

* Name von der Redaktion geändert