Olja Alvir, "Kein Meer". € 16,95 / 226 Seiten. Zaglossus, Wien 2015

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Würde man nicht wissen, dass die junge Aktivistin, Journalistin und "Jugoslawienerin" Olja Alvir bereits unzählige beherzte Artikel verfasst hat, unter anderem über die Selbstexotisierung neuerer migrantischer Literatur – die Klappentexte zu ihrem Romandebüt Kein Meer führten einen in die Irre.

Dort will der Verlag mit der USP von postjugoslawischem Familienschicksal und den Intimzonenenthaarungsreflexionen einer Bloggerin locken. "Titoland" bzw. Wilder Balkan, "Feuchtgebiete" und medialer Zeitgeist in marktgeiler Berechnung gekreuzt? Von wegen: Kein Meer leistet mehr und anderes, es führt durch die Erlebnisse und Gedanken der Lara Voljic, die wie die Autorin als Kind vor dem Krieg in Bosnien nach Österreich geflüchtet war.

Wie Zopfgebäck ist der Roman aus drei Strängen geflochten: den Erlebnissen einer jungen Frau in Wien vor einem Migrationshintergrund, auf den nur spärlich Scheinwerferlicht fällt, ihrem Beautyblog mit dem bezeichnenden Titel "beautywithaknife.tumblr.com" und einer jugoslawischen Familiengeschichte, in die ein unschönes Geheimnis schliert.

Olja Alvir

Bloggerin Voljic enthüllt ein interessantes Zeitbild anhand des zugerichteten Körpers, das sie gleichermaßen dokumentiert, kritisiert und affirmiert. In dieser Hinsicht ist sie eine Anti-Roche, denn propagierte Charlotte Roche kathartisch ein Zurück zur Natur, zum fröhlich stinkenden deutschen Biokörper, lässt Lara Voljic den Widerspruch zwischen den zivilisatorischen Aspekten der Körpertechniken (Hygiene) und ihren repressiven (Makellosigkeit) offen und dadurch mehr Raum, sich diesem geistig zu stellen.

In ihrem scharfsinnigen und mitunter witzigen Buch widersteht Alvir sowohl der auktorialen Anklage als auch dem Psychologisieren; die Behandlung von Ritzwunden gehört hier etwa zum unprätentiösen Mädchenalltag. Narzisstische und Borderlinestörungen sind nun mal Konsequenz einer Gesellschaft, die eben so ist, wie sie ist.

Sie individuell wegzutherapieren hieße, ihnen nicht an die gesellschaftliche Wurzel zu fassen und der Erzählerin ihr Brenn- und Vergrößerungsglas zu klauen, mit dem sie uns jene ja zeigt und mitunter ansengt. Das zerrissene Ich will sich nicht bedauern, es leimt sich nur provisorisch zu einer ganzen Person, um die Rissstellen ihrer Umgebung besser nennen zu können, reift dadurch aber zur Persönlichkeit. Zu diesem ebenso abgeklärten wie fragilen Ethos passt auch, dass Alvir/Voljic sich nie zum Opfer machen ließen.

Folglich werden die freimütig exponierten Neurosen nie kausal mit dem Kriegsschicksal verknüpft. Eher widerwillig, passiv nimmt die Protagonistin die Fährte auf, die ihr Ungereimtheiten in der Familienerzählung über den Tod von Onkel Drago legen. Kein Sherlock Holmes ist sie, bloß jemand, der bei seinen Urlauben in der Heimat der Eltern, die als Illusion eigener Heimat fungiert, nicht von dunklen Überraschungen belästigt werden will; doch irgendwann gibt es kein Entkommen, und Olja Alvir beschert ihrem Buch, dessen Lesern und denen, die es auf jeden Fall werden sollten, ein sehr unerwartetes, verstörendes Ende. (Richard Schuberth, Album, 10.5.2016)