Zuletzt mangelte es Europa nicht an Krisen: die wirtschaftliche und soziale Krise, verschärft durch Austeritätspolitik; die Ukraine-Krise und neue Gefahren an der Ostgrenze der EU; die Flüchtlingskrise mit tausenden Toten im Mittelmeer; die Klimakrise, die jedes Jahr bedrohlicher wird; die Krise der Angst durch terroristische Anschläge in Brüssel, Istanbul und Paris. Sie alle haben Auswirkungen auf den ganzen Kontinent, aber wir bestehen immer noch darauf, auf nationaler Ebene darauf zu reagieren. Aber nationale Antworten auf europäische Krisen funktionieren einfach nicht.

Wenn wir versuchen, europäische Antworten als Summe der nationalen Antworten zu erhalten, brechen wir die Diskussion auf nationale Befindlichkeiten herunter, bringen Länder gegeneinander auf, provozieren politische Unzufriedenheit, wachsende Fremdenfeindlichkeit – und lösen die Probleme erst recht nicht.

Während der Eurokrise war das politische und mediale Narrativ, dass Deutschland anderen europäischen Ländern die Austerität aufgezwungen hat – obwohl die portugiesische und griechische Regierung ebenfalls Austeritätspolitik unterstützen; dass die Portugiesen und Griechen faul seien, wie Kanzlerin Merkel im Wahlkampf meinte, obwohl die Arbeiter dort im Vergleich mehr Stunden im Jahr arbeiten als deutsche. Der Mangel an Verständnis und Dialog hat die EU näher an die Grenze der Belastbarkeit geführt und antieuropäische und fremdenfeindliche Gruppierungen bestärkt, auch in Österreich.

Es steht schlecht um die EU

Die EU der Vielfalt und Solidarität, für die so viele gekämpft haben, muss neu aufgebaut werden. Neu gebaut von uns, den europäischen Bürgern. Die einzige Möglichkeit, wie das funktionieren kann, ist durch einen Dialog über Europa, der wirklich alle einbindet. Die deutsche Regierung hat dies verstanden. Nachdem die Krise die Feindseligkeit gegenüber Berlin im Süden Europas entfacht hat, fuhr ihr Staatsminister für Europa nach Athen, Lissabon, Rom, Madrid und Marseille, um dort in Town-Hall-Meetings direkt mit der Bevölkerung zu sprechen.

Dies ist der richtige Weg. Nationale Politiker müssen ihren nationalen Wählern verantwortlich sein, aber mit der Gesamtheit unserer Gemeinschaft sprechen. Der einzige Weg, wie sie für die Interessen ihrer Wähler eintreten können, ist, Verbündete in ganz Europa zu finden. Die Zivilgesellschaften unserer Länder müssen sich stärker auf gesamteuropäischer Ebene einbringen. Griechen müssen im deutschen TV erklären, warum Austerität schädlich und ineffektiv ist. Deutsche müssen in ungarischen Zeitungen begründen, warum wir Geflüchtete in Europa aufnehmen müssen. Ungarn müssen im portugiesischen Radio darüber sprechen, warum unsere Demokratie im Jahr 2016 erneut in Gefahr ist. Und, ja, Portugiesen müssen in österreichischen Zeitungen erläutern, warum wir einen gesamteuropäischen Dialog brauchen.

Zusätzlich zur gemeinsamen Zivilgesellschaft brauchen wir auch eine Reform der europäischen Institutionen. Statt die Entscheidung im Rat als Debatte zwischen Nationalstaaten zu führen, sollten wir im Europäischen Parlament debattieren und entscheiden. Wir brauchen mehr Diskussionen über Grenzen hinweg. Das muss mit jeder und jedem Einzelnen von uns anfangen. Mit Ihnen. (Filipe S. Henriques, 10.5.2016)