Die Zentralmatura findet heuer zum zweiten Mal an allen AHS und erstmals auch an allen BHS statt.

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Kürzlich war es wieder soweit: Mehrheitlich elegant gekleidete junge Menschen warteten mehr oder weniger nervös darauf, ihre vorwissenschaftliche Arbeit (VWA) zu präsentieren. Nachdem sie über ein Jahr lang ein Thema bearbeitet und eine rund 20-seitige Arbeit verfasst hatten, galt es, diese vor der Prüfungskommission zu präsentieren und zu diskutieren.

Auch wenn (vielleicht auch: gerade weil) die VWA für viele Schülerinnen und Schüler eine große Herausforderung darstellt und in der achten Klasse zu einer intensiven Arbeitsbelastung führt, haftet der abschließenden Präsentation mitunter etwas Großartiges an. Die allermeisten Maturantinnen und Maturanten sind stolz auf ihre eigene Arbeit, nicht wenige haben allen Grund dazu. Wer allzu streng mit den Arbeiten der Jugendlichen ins Gericht gehen will, möge sich an seine eigenen Proseminararbeiten an der Uni erinnern.

Das Inititationsritual

Die VWA stellt die erste Säule der neuen Reifeprüfung dar. Was auch immer man dagegen einwenden mag – dass wissenschaftliches Arbeiten noch gar nichts für Schülerinnen und Schüler ist, dass Nicht-Akademikerkinder unverhältnismäßig benachteiligt sind, dass die Arbeit an der VWA die Konzentration auf die Inhalte der achten Klasse stört – die Präsentation dieser Arbeit ist im Grunde das Einzige, was vom Inititationsritual der früheren Reifeprüfung geblieben ist. Daher der zumindest potentielle Nimbus des Großartigen.

Denn die neue Matura hat fast alles, was diese Abschlussprüfung bislang an ritualhaftem und feierlichem Charakter aufzuweisen hatte, entsorgt. Übrig geblieben ist eine funktionalistische Überprüfung standardisierten Könnens, das der Vorstellung von "Reifeprüfung" eigentlich zuwiderläuft. Mit der Verschiebung von Wissen und Inhalten in Richtung Kompetenzen hat sich nämlich nicht nur die Form der Prüfung, sondern auch das Bild der Maturantin beziehungsweise des Maturanten substantiell verändert.

Der junge Mensch im Mittelpunkt

Bei der früheren Form der Reifeprüfung ging es darum, den Maturantinnen und Maturanten Gelegenheit zu bieten, ihr in der Schule erworbenes Wissen sowie ihr dazugehöriges Können vorzuführen. Sie sollten zeigen können, was sie gelernt hatten. Sie sollten im Idealfall über sich selbst hinauswachsen können, bei der mündlichen Matura vor einer großen Kommission sowohl mit ihrem Allgemein- als auch mit ihrem Spezialwissen in den einzelnen Fächern glänzen und beeindrucken können. Dafür gab es extra Vorbereitungsstunden, dafür konnte sich der Lehrer oder die Lehrerin für jeden Kandidaten einzeln überlegen, was am besten zu diesem passt. In der Realität kam es wohl immer wieder zu mehr oder weniger großen Abweichungen von diesem Ideal. Fast jeder in Österreich, der selbst einmal maturierte, weiß eine Anekdote beizusteuern, die nicht dem Ideal entspricht.

Trotzdem: Im Mittelpunkt der alten Matura stand der junge Mensch, der nach bestandener Prüfung für reif erklärt werden sollte, seinen weiteren (Bildungs-)Weg alleine zu gehen. In logischer Konsequenz hatte die mündliche Matura als abschließender Teil des Prüfungsreigens am Stück absolviert zu werden. Am Ende des jeweiligen Halbtages wurde den Kandidatinnen und Kandidaten gratuliert, indem die Kommission geschlossen an ihnen vorbeidefilierte und jedem Einzelnen die Hand schüttelte. Ein Ritual, welches symbolisch das Ende des Lehrer-Schüler-Verhältnisses zum Ausdruck brachte.

Standardisiertes Messen

Bei der neuen Matura ist vieles anders. Die Prüfungsfragen orientieren sich weder an der Klasse noch am einzelnen Schüler, sondern an den allgemein vorgegebenen Kompetenzen. Im Schriftlichen wird ohnehin zentral entschieden, was gekonnt werden muss, im Mündlichen zieht die Kandidatin, der Kandidat die Frage (beziehungsweise den Themenbereich) aus einem "Themenpool". Sodann gilt es unter Beweis zu stellen, dass die vorab definierten Kompetenzen "im Wesentlichen", "vollständig" oder gar "weit über das Erwartbare hinaus" erfüllt werden. Nicht das Individuum, der Maturant oder die Maturantin, steht hierbei im Mittelpunkt, sondern das objektivierte Ausmaß an Kompetenzen des jeweiligen Kandidaten. Es ist insofern weniger ein individuelles Prüfen als ein standardisiertes Messen, das da stattfindet. Und wieder in logischer Konsequenz wird die Abfolge der mündlichen Matura als nach wie vor letzter Prüfungsteil nicht mehr primär nach Maturantinnen und Maturanten oder Klassen geordnet, sondern nach Fächern: nach den Kompetenzen in Biologie wird beispielsweise die Sprechkompetenz im Englischen gemessen, nach den Kompetenzen in Psychologie jene in Deutsch et cetera.

Fast jede Maturantin, fast jeder Maturant muss folglich an mehreren Tagen zur mündlichen Matura erscheinen, das abschließende Händeschütteln verliert seinen eigentlichen Sinn, sind doch am Ende eines Halbtages Kandidatinnen und Kandidaten, die gerade einmal eine von drei Teilprüfungen absolviert haben, genauso zu beglückwünschen wie jene, die bereits fertig sind. Dass im vergangenen Jahr bei uns an der Schule so mancher Maturant bereits in legerer Freizeitkleidung oder auch einfach nicht zu diesem Rest-Ritual erschien, bringt deutlich zum Ausdruck, dass die neue Matura mehr einem finalen Kompetenzcheck als einem großen Abschlussexamen gleicht. Kompetenz, Transparenz, Funktionalität, wo bislang das Initiationsritual Reifeprüfung auf dem schulischen Spielplan stand.

Die Valorisierung des Individuums

Die einzige Ausnahme, und damit wären wir wieder bei der ersten Säule der neuen Reifeprüfung, bildet die VWA und ihre Präsentation. Sie bietet den Maturantinnen und Maturanten nach wie vor zumindest theoretisch die Chance, über sich selbst hinauszuwachsen und zu zeigen, was jeder von ihnen zu leisten im Stande ist – auch wenn sich der Termin für die Präsentationen im April für viele von ihnen noch nicht so recht maturamäßig anfühlen mag.

Dem Rest der neuen Matura aber fehlt etwas ganz Wesentliches: Die Valorisierung des Individuums, die Wertschätzung jedes einzelnen Menschen, den wir als Erwachsene und Lehrerinnen und Lehrer viele Jahre unterrichtet und begleitet haben, dem wir versucht haben Bildung fürs Leben angedeihen zu lassen und den wir nun der abschließenden Prüfung unterziehen, um ihn danach für reif zu erklären. Wie gesagt, ich spreche von der Idee. Und diese Idee umfasste Wissen und individuelle Leistungen, sie implizierte Inszenierung und Rituale, sie betrachtete die Maturantinnen und Maturanten als Einzelpersonen und im Klassenverbund, sie arrangierte das Ende der gemeinsamen Schulzeit als Finale furioso.

Der funktionierende Mensch als Ziel

Die neue Form der Matura scheint mit all dem nicht mehr viel anfangen zu können. Sie erscheint eher als Antwort auf ein Zerrbild von Matura, auf eine Realität, die sich vom Ideal mancherorts vielleicht allzu weit entfernt hatte. Es stellt sich indes die Frage: Hätte man bei einer Maturareform nicht auch daran arbeiten können, dem schönen Ideal ein wenig näher zu kommen? Hätte man wahrscheinlich schon, wollte man aber wohl nicht. Denn das Problem ist vermutlich, dass man auch dem Ideal nicht mehr viel abgewinnen konnte. Weil es in der derzeitigen Gesellschaft ohnehin mehr um Funktionalität und um Zweckorientierung geht? Weil eben nicht der gebildete, sondern der funktionierende Mensch das Ziel ist, weil am Ende der Schulzeit nicht vage Reife, sondern Verwert- und Verfügbarkeit herauskommen soll? Weil es in Wahrheit weniger um das Individuum mit seinem Wissen und Können als um den genau mess-, beschreib- und vergleichbaren Standard einer bestimmten Altersgruppe geht? Wenn die "neue Reifeprüfung" tatsächlich auf solchen Vorstellungen fußt, sollten wir ehrlicherweise aber auch nicht mehr von "Reife" sprechen. "Abschließender Kompetenzcheck" täte es auch. (Monika Neuhofer, 9.5.2016)