Mausert sich zur Geheimfavoritin mit selbstkomponiertem Song: Iveta Mukutschjan aus Armenien.

Foto: : Andres Putting (EBU)

Konnte bislang ihren Geheimfavoritinnenstatus nicht bestätigen: Nina Kraljić aus Kroatien.

Foto: Andres Putting (EBU)

Entschleunigung aus den Niederlanden: Douwe Bob.

Foto: Thomas Hanses (EBU)

Großartiger Trash aus San Marino vom türkischen Moderator Serhat.

Foto: Thomas Hanses (EBU)

Er ist Favorit und macht Fernsehen statt Musik: Sergey Lazarev aus Russland.

Foto: Andres Putting (EBU)

Die Song-Contest-Bühne in Stockholm ist gewöhnungsbedürftig. Viele Delegationen beklagten, dass sie sich nur mühsam vorbereiten konnten, weil die dreidimensional verschobenen Ebenen schwer einzuschätzen waren. Das merkte man bei den Proben dieses Jahr besonders intensiv, weil viele Acts noch etwas änderten, sich neu positionierten, alles neu denken mussten. Wien hatte die schönere Bühne.

In der dortigen Stadthalle gewann bekanntlich Måns. Dem Schweden hat es der Sender SVT zu verdanken, zum sechsten Mal den ESC austragen zu dürfen. Standesgemäß beginnt das Semifinale mit "Heroes" in einer ganz neuen Version. Die für Wien gezeichnete Figur darf heute in Fleisch und Blut auftreten. Loreen brachte ihren 2012er-Siegersong "Euphoria" ein Jahr später in Malmö mit Kinderchor und Orchester dar. Eine Tradition, die sich die Schweden offenbar nicht nehmen lassen wollten. Moderieren darf Måns übrigens die kommenden Tage auch, und zwar mit der wirklich fabelhaften Petra Mede, die 2013 noch ganz allein die Gastgeberin war.

Måns Zelmerlöw und Petra Mede, die Moderatoren des diesjährigen Song Contest.
Foto: Anna Velikova (EBU)

Der Löwenzahn ist heuer das Motiv, und dieser weht aus allen Ecken Europas und Australiens nach Stockholm. "Come together" ist bekanntlich das Motto in diesem Jahr – was von den Fans hier durchaus doppeldeutig interpretiert wird.

Der Interval Act vor der Bekanntgabe, welche zehn Songs es ins Finale schaffen werden, ist ein deutliches politisches Signal: Refugees tanzen auf der Bühne.

Wer kommt im ersten Semifinale weiter? Wer fliegt raus? Spekulieren Sie mit – und stimmen Sie ab, denn Österreich ist heute mit dabei.

1. Finnland: Sandhja – Sing It Away

Eine Reise in die 90er, als Incognito und die Brand New Heavies angesagt waren: So präsentiert sich Finnland dieses Jahr. Der Song ist ein guter Opener, verbreitet gute Laune und Stimmung. Die stimmliche Leistung war zumindest in den Proben leider bescheiden.

Chancen fürs Finale: Das wird eher nichts

2. Griechenland: Argo – Utopian Land

Wenn ein Land Ethnoklänge in den zumeist schwedisch komponierten Einheitsbrei des ESC bringt, als schrieben wir noch die frühen 2000er-Jahre, dann natürlich Griechenland. Die Musik der pontischen Minderheit, das sind Griechen von der Schwarzmeerküste des Kaukasus, ist aber eher schwer zugänglich und wird auch als Pop nicht gefälliger. Sie werden ein Hilfspaket aus Europa brauchen, um sich in die nächste Runde zu retten.

Chancen fürs Finale: Griechenland kommt meistens weiter, aber heuer wäre es ein hellenisches Wunder

3. Moldawien: Lidia Isac – Falling Stars

Mir ist nichts von moldawischen Astronauten bekannt, aber heute darf einer von ihnen auf die Bühne und die arme Lidia, die langweilige ESC-Dutzendware präsentiert, begleiten. Das wäre ja noch nicht so schlimm, wenn Lidia bei einer der Proben die Töne getroffen hätte, doch das geschah bislang noch nie. Ganz fürchterlich, das!

Chancen fürs Finale: letzter Platz und raus

4. Ungarn: Freddie – Pioneer

Man kann hölzerne Beweglichkeit durch strahlende Schönheit, einen athletischen Körper und eine interessante (wenn auch ebenso wenig bewegliche) raue Stimme wettmachen. Ungarn überrascht immer wieder mit ausgezeichneten Beiträgen. Dieser hier ist eher unberechenbar, wird aber seine Fans gewinnen.

Chancen fürs Finale: weiter

5. Kroatien: Nina Kraljić – Lighthouse

Schon während der gesamten Woche in Stockholm hatte man den Eindruck, die arme Nina muss den kroatischen Beitrag ganz alleine stemmen: Das Team blieb unsichtbar, Ansprechpersonen suchte man in den Unterlagen vergebens. Das verwundert durchaus, denn sie kam mit dem von den Österreichern Andreas Grass und Nikola Paryla komponierten Song als Geheimfavoritin nach Stockholm. Die Umsetzung auf der Bühne enttäuscht aber sehr. Das Lied erinnert frappant an den 2013er-Siegersong "Only Teardrops".

Chancen fürs Finale: Zitterpartie

6. Niederlande: Douwe Bob – Slow Down

Entschleunigung ist das Thema von Herrn Bob aus den Niederlanden. Das meint er so ernst, dass er den Zuschauern am Ende des Songs sehr lange Sekunden Stille gönnt. Dieser Beitrag wird besser abschneiden, als viele glauben und die Wettquoten vermuten lassen. Mit Country konnten die Niederlande bereits 2014 trumpfen.

Chancen fürs Finale: weiter

7. Armenien: Iveta Mukutschjan – Love Wave

Fast hätte Österreich auch eine Armenierin nach Stockholm geschickt, nun aber ist Iveta die einzige, und sie macht ihre Sache mit dieser armenischen Komposition wirklich ganz ausgezeichnet. Der Song ist zeitgemäß und baut ganz nebenbei ein paar folkloristische Elemente ein. Die Sängerin hat eine enorm starke Stimme und viel Charisma. Ich finde das gut.

Chancen fürs Finale: Viele Ex-Sowjet-Staaten stimmen heute ab, daher hat Armenien schon einen Vorteil. Das kommt aber zu Recht ins Finale.

8. San Marino: Serhat – I Didn't Know

Jetzt wird's persönlich. Denn ich liebe, liebe, liebe das! In Leonard-Cohen-Manier wird durch diesen Song gewispert und geflüstert. Ursprünglich als Ballade präsentiert, wurde er in letzter Minute doch noch in einer Discoversion auf die ESC-Bühne gebracht. Serhat ist in der Türkei ein bekannter TV-Moderator und nebenbei auch ein großer Song-Contest-Fan. 2000 war er als Zuschauer in Stockholm dabei und jetzt als Künstler. Wenn es einen Eurovisionsgott gibt, dann kommt das ins Finale. Meine Bitte: Ruft dafür an! Der Song Contest braucht so was. Unbedingt.

Chancen fürs Finale: Bitte! Bitte! Bitte!

9. Russland: Sergey Lazarev: You Are The Only One

Jetzt werden sich die Meinungen wieder teilen, denn so was brauche ich persönlich nicht. Trotzdem ist das freilich der haushohe Favorit. Er hat alle erfolgreichen Elemente der letzten Jahre zusammengebastelt: Måns' LED-Inszenierung und Conchitas Flügel etwa, noch einige spektakuläre 3D-Effekte hinzugefügt, klettert herum, und ja, klar beeindruckt das. Mit Musik hat das wenig zu tun, aber mit Fernsehen. Mir ist das zu technisch-berechnend, aber das schrieb ich 2015 über Måns' "Heroes" ja auch.

Chancen fürs Finale: ganz sicher weiter

10. Tschechien: Gabriela Gunčíková – I Stand

Wer sich schon fragte, wo die klassischen Balladen bleiben: voilà! Noch nie hat es Tschechien, wie man das Land mittlerweile auch offiziell nennen darf, ins Finale geschafft. Voriges Jahr war das unverdient, und heuer dürfen wir unseren Nachbarn wirklich einmal alles Gute wünschen. Kleine Soli-Anrufe aus Österreich wären schon okay. Die Ballade und die Stimme sind klassisch schön.

Chancen fürs Finale: Zitterpartie

11. Zypern: Minus One – Alter Ego

2015 schafften sie es auf sehr eigenartige Weise knapp nicht nach Wien. Beim Televoting der nationalen Vorausscheidung erreichten sie den letzten, bei den Juroren den ersten Platz. Heuer ist es endlich so weit. "Alter Ego" ist eine gefällige, von der Band selbst geschriebene Nummer, und auch Erfolgskomponist Thomas G:Son ("Euphoria") hat da seine Erfahrung beisteuern können. Pop-Rock ist beim ESC selten geworden, daher ein sehr erfrischender Beitrag.

Chancen fürs Finale: weiter

12. Österreich: Zoë – Loin d'ici

Charme statt Laufband, Lächeln statt LED-Overkill, Blumen statt Pilze, Schmetterlinge statt Choreografie, doch, doch – Zoë macht das hier in Stockholm ganz ausgezeichnet und hat die Herzen der Fans im Sturm erobert. Freilich ist der Song Happy-Peppi-Retro, aber wer weiß? Vielleicht kann sich Europa gerade jetzt auf so etwas einigen. Ich muss gestehen, dass ich ursprünglich lieber Elly V. in Stockholm gesehen hätte, aber Zoë hat mich mittlerweile überzeugt.

Chancen fürs Finale: Das sollte sich ausgehen

13. Estland: Jüri Pootsmann – Play

Der estnische Sänger erinnert frappant an Thorsteinn Einarsson. Ebenso blond und eine ebenso beeindruckende tiefe, außergewöhnliche Stimme. Wunderbar altmodisch mit Anzug und Zaubertricks trägt der junge Mann seinen im besten Sinne altmodischen Song vor, der vom selben Komponisten wie der estnische 2015er-Beitrag "Goodbye To Yesterday" geschrieben wurde. Und der Beitrag wurde dann ja ein Hit.

Chancen fürs Finale: Zitterpartie, eher weiter

14. Aserbaidschan: Samra – Miracle

Die schwedische Pop-Filiale namens Aserbaidschan (haben die eigentlich keine Komponisten im Land?) schickt äußerst langweilige Dutzendware nach Stockholm. In Osteuropa wird das gut ankommen, ein Hit wird das nicht. Der Song Contest hatte in den letzten Jahren genug von diesen Reißbrettsongs. Ich kann so was nicht mehr hören, wofür die Sängerin freilich nichts kann.

Chancen fürs Finale: Wenn das weiterkommt, dann deshalb, weil Ex-Sowjet-Stimmen das so wollen

15. Montenegro: Highway – The Real Thing

Ungewöhnlichere Töne kommen aus Montenegro: Elektro-Rock. Das tut dem Bewerb gut, aber weiß nicht ganz zu überzeugen. Montenegro hat es bereits öfter mit mutigen Außenseitern versucht, statt auf schwedische Konservenmusik zu setzen. Das muss man dem kleinen Land hoch anrechnen, auch wenn es sich dieses Jahr wohl nicht fürs Finale ausgehen wird.

Chancen fürs Finale: raus

16. Island: Greta Salóme – Hear Them Calling

Island ist schon großartig: So oft teilgenommen, noch nie gewonnen, und trotzdem schauen sich bestimmt auch dieses Jahr wieder rund 98 Prozent der Isländer den ESC im Fernsehen an, um ein neuerliches Scheitern erleben zu dürfen. Falsche Töne, netter Song, auch fein anzusehen, aber der Funke mag nicht recht überspringen.

Chancen fürs Finale: eher raus

17. Bosnien & Herzegowina: Dalal & Deen feat. Ana Ruchner & Jala – Ljubav je

Bosnien & Herzegowina war immer ein Garant für ganz ausgezeichnete Beiträge. Umso erfreuter vernahmen Fans die Nachricht, dass das Land zurückkehrt, zumal sie mit dem Star von 2004, Deen, einen Kenner des ESC schicken. Doch der Weg zurück gestaltet sich etwas holprig. Der Rap wirkt deplatziert, sonst wäre es eine klassisch schöne Balkan-Ballade. Vor zehn Jahren war so etwas erfrischend, aber 2016?

Chancen fürs Finale: schwer vorherzusehen, eher weiter, weil Alleinstellungsmerkmal

18. Malta: Ira Losco – Walk On Water

Ira Losco ist so etwas wie der größte Popstar der kleinen Insel, und sie wurde beim ESC 2002 Zweite mit "7th Wonder". 14 Jahre später will sie es mit einem Song aus – genau, richtig geraten! – einer schwedischen Popfabrik noch einmal wissen. Klingt ähnlich wie etwa 35 Beiträge aus den letzten vier Jahren.

Chancen fürs Finale: eher raus

(Marco Schreuder, 10.5.2016)