Wien – John Neumeier, 74, ist wahrscheinlich Deutschlands beliebtester Ballettchoreograf. In seinem Heimathafen Hamburg liegt er nun seit 1973 glamourös vor Anker und gehört damit wohl zu den längstdienenden Ballettkapitänen des Universums. Entsprechend selbstverständlich ist die Mann- und Frauschaft des Choreografendirektors auch mit seinem Namen verbunden: als Hamburg Ballett John Neumeier. Das Theater an der Wien zeigt gerade Neumeiers dreieinhalbstündigen Abend Shakespeare Dances.

In seinen mehr als vierzig Jahren im Amt hat der emsige Künstler rund 120 Ballette choreografiert. Also sollte man ihm keinen Vorwurf daraus machen, dass dieses Gastspiel ein Recyclingprodukt aus Teilen früherer Ballette ist: Wie es euch gefällt, Hamlet und Vivaldi oder Was ihr wollt.

Denn so wird sichtbar, wie der Choreograf in den 1980er- und 1990er-Jahren mit dem noch beliebteren Autor gerungen hat – um die Musikalität des Wortes, die Struktur der Handlung, die Körper der Charaktere, um geistige Tiefgänge, Höhepunkte der Wirkung und das tanzende Fleisch der Metapher.

Bei den Shakespeare Dances ist zum Beispiel Jacques schon zu Beginn ein Radfahrer, der müßig mit einem Buch über dem Gesicht in der Landschaft rastet. Bei Shakespeare fremdelt er – "I can suck melancholy out of a song, as a weasel sucks eggs" – als Philosoph und Pessimist. Bei Neumeier wandelt er als netter Typ und Beobachter durch alle drei Stücke. Weniger aus Willkür, sondern als Resultat eines Spiels, für das Shakespeare dem Choreografen seit 45 Jahren Tribute liefert.

Neumeier hantiert mit dem Gift des Kitschs, knetet an den Figuren und rochiert mit Zusammenhängen. Den Kitsch träufelt er vor allem über seine selbstverantwortete Bühnengestaltung ein. Besonders liebevoll arbeitet er mit den aufgemischten Geschlechteridentitäten von Was ihr wollt. Und die Liebespaare des Abends, Orlando und Rosalind, Hamlet und Ophelia, Orsino und Viola, haben Begegnungen mit Eindringlingen in die Shakespeare Dances wie Romeo und Julia oder Othello und Desdemona.

Da probiert einer mit einem übergroßen Füllhorn an Details und hart an der Dekonstruktion aus, was alles geht. Und warum sollte es nicht gehen, wenn sich's für den Choreografen vor allem darum dreht, dem Publikum eine gute Zeit und sich selbst einen Spaß aus dem Remix eigener Materialien zu bereiten? Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg-Balletts passen bestens zu dieser thematischen Modelliermasse. Nichts an ihnen ist kantig oder steif, selbst negative Charaktere wirken da wenn schon nicht sympathisch, so doch schlimmstenfalls skurril.

Dem Abgründigen fern

Anders als dem oft dämonischen Wiener Staatsballett, das Neumeier – wie sein Abend Verklungene Feste / Josephs Legende für die Compagnie zeigt – auch sehr schätzt, liegt den Hamburger Tänzern das Abgründige eher fern. Auch liegt ihnen das Lustige näher als ambivalenter Humor. Daher tritt die Truppe dann zum Schluss vollzählig mit Clownsnasen in den Gesichtern vor das Publikum, und schon ist auch der ganze Hamlet ein Was ihr wollt. Herzig.

Die Musikmischung des Abends wird zu zwei Teilen vom Wiener Kammerorchester unter Garrett Keast vorgetragen: viel sorgfältig ausgewählter Vivaldi und Mozart. Nur Hamlet ist von Michael Tippett getragen, und der kommt aus der Dose (Bournemouth Symphony Orchestra unter Richard Hickox). Das kühlt die Atmosphäre, unterstreicht die Tragödie, aber es abstrahiert sie auch. John Neumeier ist beliebt, weil er Unterhaltung mit Hintergrund anbietet. Und leider niemals verstört. (Helmut Ploebst, 10.5.2016)