Josef Seethaler

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Maren Beaufort

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Wien – Wenn etwas am Ausgang des ersten Durchgangs der Bundespräsidentenwahl überraschend war, dann bestenfalls die Deutlichkeit, mit der die WählerInnen sinngemäß jene Worte gesagt haben, mit denen Wilhelm Molterer 2008 die Zusammenarbeit mit der SPÖ aufgekündigt hatte: "Es reicht." So wie 2008 der gerade aufgekündigten großen Koalition abermals eine große Koalition folgte, deutet auch diesmal nichts auf substanzielle Veränderung: Zumindest die öffentlich diskutierten Ursachen für das katstrophale Abschneiden der beiden vormals staatstragenden Parteien verbleiben weitgehend an der Oberfläche des Problems. Sowohl die Frage einer Koalition mit der FPÖ als auch jene nach der Ausrichtung der Asyl- und Flüchtlingspolitik greifen als Erklärung zu kurz. Die tatsächlichen Ursachen liegen woanders. Und ihnen entgegenzuwirken, ist auch Aufgabe der Medien.

Wahlbeteiligung sinkt

Eigentlich wissen wir es seit langem: Besonders bei den unter 35-Jährigen liegt die Wahlbeteiligung nicht nur unter dem Bevölkerungsdurchschnitt, sondern sie sinkt beständig. Parteien, Regierung und Parlament befinden sich – wie die PolitikwissenschaftlerInnen Sieglinde Rosenberger und Gilg Seeber analysiert haben – in einer "gravierenden Vertrauenskrise". Die eingeübten Regelungsmechanismen – weltanschauliche Positionen versuchen sich in Mehrheitsentscheidungen durchzusetzen – werden angesichts der Komplexität der Probleme, die sich zusehends ideologischen Mustern entziehen, immer unglaubwürdiger. Die oft zitierte "Handschrift der Partei", die es einer Lösung aufzudrücken gelte, verkommt zur Karikatur.

Die Menschen erleben Politik weitgehend als abgehoben, dem alltäglichen Leben entrückt. Was sie im alltäglichen Leben jedoch sehr wohl spüren, sind die Folgen dieser Politik: Proporz, Freunderlwirtschaft, eine geringe soziale Durchlässigkeit, eine als ungenügend empfundene Verwaltung. Das Vertrauen in das Bildungssystem ist beispielsweise besonders stark gesunken: nicht einmal die Hälfte der ÖsterreicherInnen glaubt, dass es funktioniert. Und das, obwohl Bildung, wie der Demograph Wolfgang Lutz nicht müde wird zu betonen, die wichtigste zukunftsweisende Ressource ist! Darin liegen die tatsächlichen Ursachen für ein Wahlverhalten, das nicht mehr auf die etablierten politischen Kräfte setzt.

Themenorientierte Problemlösung

Andererseits gewinnen in vielen gesellschaftlichen Teilbereichen Governance-Modelle und darin involvierte NGOs an Bedeutung. Hier geht es um themenorientierte Problemlösung, an der viele Akteure unterschiedlicher weltanschaulicher Orientierung gemeinsam arbeiten und sich dabei um einen möglichst breiten Konsens bemühen. Ebenso steigt die Zahl der – vor allem jungen – Menschen, die ihre Stimme nicht bloß in der Wahlzelle "abgeben", sondern in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen wollen, sei es durch Überzeugungsarbeit, Boykott von Firmen, Online-Petitionen, Organisation konkreter Aktionen u.ä.m. Dieses Engagement gilt in der Regel nicht politisch vorgegebenen Themen, sondern persönlich als wichtig erachteten Anliegen. Nicht zuletzt durch mediale Vernetzung erhalten solche Anliegen Gewicht und machen auf Problemlagen aufmerksam, die aus der Vogelperspektive der institutionalisierten Politik kaum Chancen hätten erkannt zu werden.

Partizipatorische Demokratie

Wenn der Protest nicht noch weitere Kreise ziehen soll, dann ist ein Gegensteuern angesagt. Dafür brauchen wir kein Mehr an Top-Down-Instrumenten, auch nicht an direktdemokratischen, die den BürgerInnen vorschreiben, wann und was sie entscheiden dürfen und letztlich nur der populistischen Stimmungsmache Tür und Tor öffnen. Was wir dringend benötigen, ist ein Mehr an Bottom-Up-Verfahren, ein Mehr an Initiativen, die von den BürgerInnen selbst ausgehen. In der partizipatorischen Demokratie geht es darum, möglichst vielen Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Interessen zu artikulieren und ihre Vorstellungen in den politischen Prozess einzubringen. Sie übernehmen aber nicht den Job der PolitikerInnen: die sollen weiterhin ihre Arbeit tun und dafür auch gerade stehen.

Lösungsoptionen

Für die traditionellen politischen Parteien ist es eine Überlebensfrage, partizipatorische Verfahren ernst zu nehmen. Aber auch die Medien stehen vor der nicht minder folgenreichen Herausforderung, ihre Rolle zu überdenken. So wichtig die unparteiliche Vermittlung von Informationen und eine ausgewogene Darstellung möglichst vielfältiger Positionen ist – Medien sind heute mit viel breiteren Anforderungen konfrontiert.

Um die BürgerInnen zu politisch-gesellschaftlicher Teilhabe zu befähigen, gilt es sie zu motivieren und zu aktivieren. Für ein solches "empowering" braucht es einerseits Wissen: Worin liegen die Ursachen eines Problems, wie ist es unter welcher Perspektive zu bewerten, wer ist dafür verantwortlich, welche Lösungsoptionen gibt es und wer ist wovon betroffen. Ohne diese Kenntnis kann man nicht mitreden.

Identifikationsangebote

Um Betroffenheit und damit Engagement zu wecken, ist aber auch eine "Politik der Gefühle" gefragt (Gary S. Schaal und Felix Heidenreich). Sie erfordert positive emotionale Identifikationsangebote, doch ist Empörung ebenso legitim wie Empathie, Wut ebenso wichtig wie Freude. Und dafür sind, provokant gesagt, selbst mediale Mittel wie Personalisierung, Entertainisierung, Zuspitzung und das Aufeinanderprallen von Positionen recht – wenn sich ihr Einsatz an eine entscheidende Prämisse hält: Partizipatorische Demokratie beruht auf der Anerkennung einer pluralen, diversen Gesellschaft und damit auf der Bereitschaft, auch entgegengesetzte Haltungen zu respektieren. Ein gegenseitiges Ausspielen von Bevölkerungsgruppen ist durch nichts zu rechtfertigen. Im Bewusstsein des Miteinander heißt jedoch Medienqualität heute: Inklusion möglichst vieler in den demokratischen Prozess. Damit niemand von ihm sagen kann: Es reicht. (Josef Seethaler und Maren Beaufort, 16.5.2016)