Als vor 15 Jahren Peter Truschners Romandebüt Schlangenkind erschien, antwortete der 1967 in Kärnten geborene Autor, der seit 1999 in Berlin lebt, dem Deutschlandfunk auf die Frage nach Ausrichtung und Gründen seines Schreibens: "Ich will mit der Literatur Erfahrungen machen, ich will kein Schreibtischtäter sein und irgendwelche Endprodukte in die Welt setzen, (...). Literatur muss für mich auch eine Art Tauschhandel bereithalten, ein Mehr an Leben und Erleben."
Die Feuilletons staunten damals nicht schlecht über die Unmittelbarkeit, Körperlichkeit, Härte und Radikalität des metaphernreichen Romans einer Häutung, in dem ein in Kärnten bei den Großeltern aufgewachsener junger Mann, den seine Mutter zurück zu sich nach Salzburg holt, schmerzhaft seine Kinderhaut abwirft. Mit der gängigen Befindlichkeits-Adoleszenz-Prosa hatte das Buch, das sich Romantizismen und Sentimentalitäten versagt, nichts zu tun.
Dies vor allem, weil es dem Autor nicht darum ging, eine berührende Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, vielmehr entwarf Truschner in Schlangenkind einen atmosphärischen Erfahrungs- und Erinnerungsraum, den er an der räumlichen Bewegung des Ich-Erzählers hinaus aus dem – trotz allem – "ländlich Schönen von damals" (Paul Nizon), will heißen, einer weder idealisierten noch verdammten ländlichen Welt, in den Raum der Stadt spiegelt.
Die Stadt, vor allem ihre Ränder als Lebens- und sozialen Leidensraum thematisierte Truschner, der ein paar Jahre im migrantisch geprägten Berliner Problemkiez Wedding lebte, in seinem zweiten Roman Die Träumer (2007), in dem sich ein Mann aus einer Mittelstandsexistenz, Uni-Job und kinderlosen Ehe (mit einer Society-Köchin) katapultiert, um an den gesellschaftlichen Rändern bei Obdachlosen und Deklassierten zu landen, denen längst klar ist, dass sich die ökonomischen Kampfzonen der Konkurrenzgesellschaft weit ins Private ausgedehnt haben. "Kameraden" findet er schließlich und nur kurz bei einer ominösen Wehrsportgruppe.
Die im Roman geschilderte Gegenwart einer zunehmenden Radikalisierung, Vereinzelung und gesellschaftlichen Spaltung sollte sich für die mittlerweile eingetroffene Zukunft als treffend erweisen. In seinem letzten Roman Das fünfunddreißigste Jahr (2013) lenkte Truschner seinen, was das Soziale betrifft, sehr genauen Blick dann auf die Generation der nicht mehr ganz Jungen, die ihre Träume auf dem Müllhaufen der Lebens- und Beziehungsgeschichten entsorgt und sich widerstandslos den alternativlos geglaubten sozialen und ökonomischen Gegebenheiten angepasst haben.
Überlebenskampf
Truschner wird allerdings zu Unrecht auf den Schriftsteller reduziert, der er auch ist. Das mag damit zu tun haben, dass er sich, seit er in den 1990er-Jahren Philosophie, Politik- und Kommunikationswissenschaft studiert und anschließend die eingeschlagene Uni-Karriere aufgegeben hatte, auf verschiedensten Gebieten bewegt. Er verfasste Libretti und Theaterstücke, er war Regieassistent bei Kusej (Weibsteufel), hält Workshops für Studenten der Hochschule für Schauspiel Ernst Busch, hat eine Dozentur an der Universität der Künste in Berlin inne und schreibt theoretische und essayistische Texte (auch für diese Zeitung).
Seit einigen Jahren widmet er sich auch fotografischen Arbeiten. Dieses interdisziplinäre Wechseln und Vereinen unterschiedlicher Felder hat dazu geführt, dass Truschner zwar in den jeweiligen Communitys wohl bekannt ist, aber schwer zu fassen bleibt.
Sein erster Foto- und Textband Bangkok Struggle, der es auf Anhieb auf Platz fünf der Bestenliste des weltweit bedeutendsten Fotobuchhändlers "photo eye" in Santa Fé schaffte, zeigt nun neben dem Literaten den Fotografen Peter Truschner. Seine Farbfotos zeigen erwartungsgemäß nicht das klischeegeschwängerte Bangkok des Sextourismus, der schwimmenden Märkte, des bau- und immobilienmäßig boomenden Stadtmolochs, nein, sie zeigen Menschen, Lebens- und Arbeitsräume und den Überlebenskampf in den Vierteln der Händlerinnen, Handwerker und Arbeiter.
Eine Frau, eine abgemagerte Katze streichelnd, ein Alter, der in einer Werkstätte an einem Motor herumschraubt, ein Näher, die blauen Augen einer alten Frau in die Kamera gerichtet, Spieße auf dem Rost einer Garküche, Metallwarenlager und Schlafende, immer wieder Schlafende. Auf dem Boden vor einer Bankfiliale, unter den Bögen einer Autobahn oder auf dem Gehweg.
Dazu bröckelnder Putz, Schweiß, verwitterte Reklametafeln, Abfall, Risse, Abblätterndes, Löcher, Schrammen, verlassene, heruntergekommene Räume, Blütenblätter auf dem Boden. Noch wenn Truschners Fotos unbelebt sind, zeugen sie von der einstigen Anwesenheit von Menschen, von einem Aufbruch ins Neue, einer Kampfpause – oder von einer Niederlage. Fotografiert er aber Menschen, werden durch kleine Details, etwa die Teddybärsocken einer vor einem Laden schlafenden Frau, die ihre ausgezogenen Sandalen vor den Gehsteig gelegt hat, ganze Lebensgeschichten spürbar.
Prinzip der Teilhabe
2011 und 2013 hat Truschner mehrere Monate in diesen Hinterhöfen des "Arbeitslagers Asien" gelebt, in denen die Hölle des Kapitalismus los ist. Nur so konnten die gut fünf Dutzend verschiedenformatigen, oft aber doppelseitigen Fotos des hochklassigen Bandes im A4 Format zustande kommen. Nichts ist hier stilisiert oder gestellt, die Menschen kannten den Fotografen und arbeiteten einfach weiter, wenn er kam. Den im Schlaf Abgelichteten wurden die Fotos vorgelegt und bei Missfallen gelöscht.
Das Prinzip der Teilhabe, des Sich-Aussetzens, der unmittelbaren Sinnlichkeit nennt Truschner "existenzielle Performanz", so hat er zum Beispiel bei seiner Recherche für Die Träumer an einer einschlägigen "Wehrsportübung" mitgemacht, in Thailand teilte er den Schlaf-Wach-Rhythmus der Arbeiter.
Von Bedeutung ist bei dieser künstlerischen Herangehensweise der Lacan'sche Begriff der "Extimität", von dem Truschner sagt: "Der Schauende und der Schauplatz, Inneres und Äußeres gehen eine räumliche Verschränkung ein. Was man betrachtet, bleibt nicht außen vor, sondern dringt in einen ein, vermischt sich dort mit Vorgefundenem." Diesem Prinzip der unmittelbaren Sinnlich- keit, die Intellekt, Gefühl, Psyche und Körper miteinbezieht, folgt Truschner auch in den kurzen (auch ins Englische übersetzten) Texten der Bandes.
Im Gegensatz zu den zurückhaltenden, fast zarten Fotos geht es in den Texten konfrontativ zur Sache, denn Truschner verweist in ihnen auf "uns" im Westen als stille Teilhaber und Profiteure der gezeigten Zustände. Er schreibt: "Die Waren haben keine Gegenwart, für sie gibt es nur den Komparativ: Mehr! Besser! Größer! Sauberer! Sicherer! Gesünder! Schöner! Asche und Glut: Wer die Wahl hat zwischen Resignation und Gier, der wählt die Gier, verschleiert sie vor sich selbst als ,Lebensstandard' oder ,Vorsorge'. (...) Bequemlichkeit, Ersatzbefriedigung, Besitzstandswahrung. Selbst der, der sich abwendet, ist doch in der Verneinung unrettbar geprägt von dem, was er verneint."
Peter Truschner schont in seinen Texten über eine Welt, in der es um den Preis und nicht um den Wert einer Ware, der Arbeit oder des Lebens geht, weder sich noch den Leser. Gewidmet ist das Buch den Menschen von Bangkok. Und Bangkok kann an vielen Orten sein. (Stefan Gmünder, Album, 14.5.2016)