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Tausende Tempel – wie hier in Bhaktapur – wurden bei dem Erdbeben in Nepal vor einem Jahr zerstört.

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Architekt Hagmüller aus Wien-Hietzing lebt seit 1979 in Nepal.

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Einem braunen Schleier gleich verhüllt eine Staubwolke Nepals alte Königsstadt Bhaktapur. Ein Jahr nach dem verheerenden Erdbeben mit 9000 Toten macht man sich hier, eine halbe Autostunde östlich der Hauptstadt Kathmandu, zaghaft an den Wiederaufbau. Ruinen werden geschleift, Wände zu Boden gebracht und Bauschutt in den Gassen aufgetürmt.

Der allgegenwärtige Staub und der Geruch alten Lehms rufen die Geister der Vergangenheit wach. Von jenem Samstag, als kurz nach Mittag die Erde bebte. So stark wie seit Menschengedenken nicht. Fast eine Minute lang. "Danach hat es hier genauso gerochen", sagt Götz Hagmüller in dem sonoren Deutsch des Schönbrunner Bürgertums.

Der 76-Jährige, kurzes weißes Haar, wache braune Augen, sitzt auf seiner Veranda unweit der eingestürzten Tempel des Dattatreya Square und steckt sich eine Zigarette an, Pilot Filter, made in Nepal. Vom Hof tönt ein Sermon betender Hindus herauf. Im Regal: die Dialektfibel "Sprechen Sie Wienerisch?".

Seit 1979 lebt der Architekt hier. Er gilt als einer der verdientesten Hüter von Nepals Kulturerbe. Sein Leben lang hat er von Erdbeben zerstörte Tempel, desolate Artefakte und marode Paläste restauriert. König Birendra heftete ihm 2001 – damals war Nepal noch Monarchie – einen Orden ans Revers. Österreich, das mit Steuergeld einen Gutteil seiner Arbeit finanzierte, verlieh Hagmüller den Ehrentitel Professor.

Ans Wackeln gewöhnt

An Erdbeben hat er sich in den 37 Jahren gewöhnt, seit er die Beschaulichkeit der Hietzinger Cottage gegen die Unwägbarkeiten der 90.000-Einwohner-Stadt im Zentrum Nepals getauscht hat. Jeden Tag bewegt sich hier, wo die Indisch-Australische Platte auf die Eurasische trifft, die Erde.

Und doch ist zu wenig Zeit vergangen seit dem "Big One", dass sich sein Verstand vom Instinkt nicht mehr in die Irre führen ließe. "Ich bin während des Erdbebens auf dem Klo gesessen, es hat geruckelt, dass man seekrank werden konnte", sagt er. "Wenn heute ein Tisch wackelt, werde ich nervös."

350 Menschen starben bei dem Erdbeben am 25. April 2015 in den engen Gassen der Altstadt, in die, ihrer Tempel wegen, Touristen aus aller Welt pilgern. Ein schweres Nachbeben drei Wochen später "war ein Schock, weil die Leute ihre Häuser schon notdürftig bewohnbar gemacht hatten".

Der "American", wie die Nachbarn Hagmüller nennen, hatte Glück. Sein Wohnhaus, das 270 Jahre alte, aufwendig renovierte Pilgerhospiz Kuthu Math, hielt den Erdstößen stand. Der Wiener lebt in dem Vierkanter mit seiner bayerischen Frau Ludmilla zur Miete, der 19-jährige Adoptivsohn ist vor kurzem zum Studieren nach Salzburg gezogen. "Die Einheimischen sind auf die Felder gerannt, und wir waren fast allein."

Kuchlnepalesisch

Ein paar Nächte im Garten, ein paar Wochen aufräumen, das war alles. Auch vor Engpässen war Hagmüller, der nach all den Jahren nur "Kuchlnepalesisch" spricht und sich sonst auf Englisch verständigt, gefeit. Die Solaranlage auf dem Dach versorgte die Handys der Nachbarschaft mit Strom.

Bis heute kommt der nur drei Stunden pro Tag aus der Steckdose. Auf dem Schwarzmarkt trieb er Gasflaschen auf. Um sich eine Pause vom Chaos im Erdbebengebiet zu gönnen, flog das Paar auf Urlaub nach Kroatien. Privilegien des Expat-Lebens – ein Luxus, den sich Einheimische nicht leisten können.

Es war 1968, als der Wiener Geschmack am Leben in dem 6000 Kilometer entfernten Königreich fand, wo sich der süßliche Duft der Blumenkinder gerade in Luft aufzulösen begann. "Es war schön und unberührter als heute. Obwohl ich nie ein Hippie war, wusste ich sofort, dass ich hier leben will." Zehn Jahre sollten vergehen, bis aus dem Irgendwann ein Jetzt wurde.

Von Bangkok aus, wo er in den 1970er-Jahren für die Uno-Welternährungsorganisation den Holzbau in Südasien erforschte, brach er nach Nepal auf. "Diese Gegend war für Architekten und Restauratoren eine der interessantesten der Welt. Obwohl die Kultur künstlerisch so hoch entwickelt war, lebten die Menschen in unvorstellbaren Zuständen. Die Frauen gingen statt aufs Klo um vier Uhr früh in die Scheißgasse, Männer um fünf Uhr."

Denkmalpflege und Entwicklungshilfe

Als TU-Student und "aufrührerischer Filmemacher" hatte der junge Hagmüller in den 1960ern gegen die Zustände zu Hause angekämpft, wollte – inspiriert von der Pariser Mairevolte – das Burgtheater besetzen, kritisierte die Gentrifizierung des Spittelbergs, drehte Filme über das Psychiatriewesen und fühlte sich der aktionistischen Gruppe Kunst und Revolution um Oswald Wiener nah. "Wir wollten bessere Bedingungen für alle."

Erst in Nepal sollte ihm das gelingen. Als Büroleiter der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit ließ Hagmüller in Bhaktapur Anfang der 1980er die ersten Wasserleitungen und Toiletten bauen. Und doch firmiert Denkmalpflege für ihn mindestens ebenso stark unter Entwicklungshilfe.

Umgerechnet 1,6 Millionen Euro österreichische Steuergelder flossen in Hagmüllers wichtigstes Werk, das 1997 eröffnete Patan-Museum vor den Toren Kathmandus, das er in einem 1734 erbauten und beim Erdbeben 1934 zerstörten Palast der Malla-Könige errichtete. Ein Gutteil der 1500 Exponate, hinduistische und buddhistische Sakralkunst, nahm Nepals Zoll Dieben ab.

Ein kaum traditioneller, aber solider Betonring hält die Mauern zusammen. Während fünf der sieben Unesco-Welterbestätten Nepals bei dem Erdbeben beschädigt wurden, überstand das Patan-Museum es beinahe unversehrt. Tatsächlich zählt das Museum heute zu den Touristenmagneten des Landes.

Trotzdem ist der Wiener nicht unumstritten. "Seine Arbeit polarisiert", sagt Thomas Schrom, damals Projektkoordinator in Patan. "Konservative akzeptieren nicht, dass er traditionelle Formen mit modernen Materialien interpretiert." Österreich errichte einen Palast, während Menschen hungern, unkten heimische NGOs. "Wir schaffen Arbeitsplätze, bringen Touristen und entlasten den Staatssäckel", hält Hagmüller dagegen. Für ihn gehört Widerstand zum Geschäft – in Nepal wie in Österreich.

Gekommen, um zu bleiben

Einmal im Jahr tritt Hagmüller, seit 2009 im Ruhestand, die Reise nach Wien an, wo sein Bruder, ein Arzt, lebt. Aber ganz zurück? "Nein", schüttelt er den Kopf. "Dafür finde ich es zu interessant hier – und ich lebe ja geradezu feudal", fügt er an und lacht. In Nepal muss Hagmüller Jahr für Jahr um die Verlängerung seines Visums ansuchen.

Einen "vergessenen Freund" nannte ihn ein Lokalblatt deshalb unlängst. "Hier ist man tolerant, weil immer schon Leute von Indien nach China durchgezogen sind." Ohne Kontakte in die Politik gehe freilich nichts, sagt der Architekt und wischt sich die verstaubte Brille sauber. Zumindest in diesem Punkt sei es gar nicht so anders als im fernen Österreich. "Nepal ist eben überall." (Florian Niederndorfer, 15.5.2016)