"Was können die Sozialdemokraten tun, um wieder Fuß zu fassen?", fragte im Sommer 2011 die deutsche Wochenzeitung Die Zeit – und machte daraus gleich eine 13-teilige Online-Serie. Die Grundlage bildete ein Buch Göttinger Wissenschafter unter der Leitung des Parteienforschers Franz Walter: Genossen in der Krise? Europas Sozialdemokratie auf dem Prüfstand, lautete der Titel.

Das war vor fünf Jahren. Die Genossen in der Krise sollten als Buch schleunigst neu aufgelegt werden, ein guter Absatzmarkt in ganz Europa winkt. Denn die Krise hält an. Vielmehr noch: Sie wird von Jahr zu Jahr schlimmer.

In Österreich haben die Sozialdemokraten in den vergangenen acht Jahren 19 Wahlniederlagen erlebt – die bitterste zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen. Der Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzende Werner Faymann hat erst nach einer wochenlangen Zerreißprobe die Reißleine gezogen und einen Scherbenhaufen hinterlassen. Mit seinem Abgang fangen die wahren Probleme erst an: Wer ihm auch nachfolgt – er muss entweder die "Linken" mit den "Rechten" in der SPÖ versöhnen oder aber sich für eine Richtung entscheiden – und damit riskieren, dass die Partei auseinanderbricht.

Es wäre aber zu einfach, die Schuld am roten Dauerdebakel in Österreich allein Werner Faymann zuzuschieben. So schlicht funktioniert weder die Welt noch die Politik, anderswo ist es nicht viel besser.

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Auch Sigmar Gabriel ist in Deutschland nicht unumstritten. Die SPD konnte sich unter seiner Führung nicht erholen.
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In Deutschland etwa kämpft Sigmar Gabriel mit der AfD, der Tatsache, dass Angela Merkel geschickt soziale Themen besetzt, desaströs verlorenen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg und äußerst miesen Umfragewerten. Der von ihm ausgerufene Programmprozess hat bis dato vor allem eines offengelegt: dass die Menschen die SPD nicht so sehen, wie sie sich selbst gerne sehen würde. So schlecht (bei 22 Prozent) lag die SPD nicht einmal nach Schröders Hartz-IV-Reformen. Jetzt, nach einer krankheitsbedingten Auszeit, muss sich Gabriel auch noch mit Rücktrittsgerüchten um seine Person herumschlagen.

Frankreichs Präsident François Hollande wiederum konnte die Franzosen während seiner gesamten Amtszeit kaum begeistern, bei mehreren Regionalwahlen sahnte der Front National ab. Nun hat Hollande die ungeliebte Arbeitsmarktreform im Parlament durchgedrückt und denkbar knapp ein Misstrauensvotum überstanden. Die Konkurrenz höhnt mittlerweile, es sei egal, wen man bei den kommende. Sogar eine Ziege könne gegen Monsieur le Président gewinnen.

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Jeremy Corbyn führt Labour mit einem prononciert linkem Kurs.
Foto: Reuters

Über dem Kanal sieht es für die Labour Party auch alles andere als rosig aus. Zunächst einmal ist sie in Opposition. Dort versucht sie zwar immerhin einen eigenen, prononciert linken Kurs mit Jeremy Corbyn an der Spitze und gar nicht so schlechten Umfrage werten. In Schottland hat sie allerdings gegen die linkspopulistische Scottish National Party trotzdem kaum ein Leiberl, das Ergebnis bei den jüngsten Regional wahlen war durchwachsen, und sie verstrickt sich immer wieder in interne Flügelkämpfe zwischen linken Corbyn-Anhängern und "rechten" Blairianern.

In Spanien herrscht seit den Wahlen vom Dezember 2015 reines Chaos. Dort leiden die Sozialdemokraten unter dem Makel, dem Sparpaket zugestimmt und die hohe Jugendarbeitslosigkeit (fast 50 Prozent) damit mit verursacht zu haben. Mit der linken Podemos übt man sich in Animositäten, eine Regierungsbildung war bis zuletzt unmöglich. Am 26. Juni gibt es Neuwahlen.

In Griechenland hat sich Pasok nach jahrzehntelanger Packelei endgültig diskreditiert, heute regiert Syriza in Koalition mit der radikalen Rechten und tut sich angesichts des von der EU auferlegten Sparkurses schwer, linke Akzente zu setzen. Lediglich in Italien scheint sich Matteo Renzi einigermaßen gut halten zu können. Sein Reformkurs hat aber mächtige Feinde – nicht zuletzt in der eigenen Partei und bei den Gewerkschaften.

Fragt man nach Gründen für die Krise der Genossen, lassen sich fünf Erklärstränge ausmachen:

Drei Hoffnungsträger der Sozialdemokraten in den 1990er Jahren: Viktor Klima, Tony Blair und Gerhard Schröder.
STANDARD/Newald

I.

Die Sozialdemokratie hat keine Antworten auf die Globalisierung und den Neoliberalismus gefunden. Sie setzt nach wie vor auf eine homogene Arbeiterschaft, die jedoch längst in Auflösung begriffen ist. In den 1990er-Jahren hat sie versucht, sich mit dem "Blair-Schröder-Kurs", New Labour und "Neuer Mitte" an den Meinungsmainstream anzupassen – mit dem Ergebnis, dass sie ihre Kernwählerschichten und ihre Glaubwürdigkeit verloren hat, was sie auch für neue Wählerkreise nahezu unwählbar machte. Der deutsche Politikwissenschafter Ulrich Brand vertritt diese These. Zum Standard sagte er: "Die Sozial demokratien haben sich neoliberalisiert und den zentralen Machtverhältnissen angepasst. Dazu kommt eine systematische Strategieverweigerung. Man entzieht sich den zentralen Debatten."

II.

Die Sozialdemokratie ist Opfer ihres eigenen Erfolgs. Die Proletarier von einst sind zu Kleinbürgern aufgestiegen, die nun Angst haben, ihren bescheidenen Wohlstand zu verlieren, meint etwa der Politologe Anton Pelinka, aber auch Heidi Glück, Politik- und Wirtschaftsberaterin und ehemalige Sprecherin des ÖVP-Kanzlers Wolfgang Schüssel. Glück: "Man hat nicht umsonst vom ,sozial demokratischen Jahrhundert‘ gesprochen: Arbeiterrechte, Mitbestimmung, Teilhabe am Produktivitätszuwachs, soziale Standards und bessere Aufstiegsmöglichkeiten – all das eingebettet in wachsenden Wohlstand. Nach dem ,mission accomplished‘ kamen Sinnkrise und Sinnsuche. Die Antwort dar auf war die Steigerung der Dosis. Der schuldenfinanzierte Wohlfahrtsstaat wurde immer weiter ausgebaut, um den Wähler zu ködern. Die Folgen waren – nicht nur in Österreich – Rekordschulden trotz Rekordsteuern und Rekordumverteilung. Die Skepsis der Menschen wuchs und wächst, dass sich das auf Dauer ausgeht."

Die Voest in Linz: Die Arbeiter kommen den Sozialdemokraten als Kernklientel abhanden.
Foto: APA/Gindl

Die Ängste des Kleinbürgertums paaren sich mit der Abstiegsangst des Mittelstandes, der zudem den Eliten nicht mehr zutraue, Lösungen für die "großen Probleme" (Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge) zu finden. Die Sozialdemokratie ist in der Zwickmühle – egal, wohin sie sich wendet, sie droht die jeweils andere Seite an den nationalen Populismus, etwa an die FPÖ, zu verlieren. Das "Hinterherhecheln" hinter den Freiheitlichen sei der grundfalsche Weg, meint etwa Politologe Brand, dies steigere noch den Unglauben der Wähler bezüglich der Lösungskompetenz der SPÖ.

III.

Die Sozialdemokraten er leiden das Dilemma einer Staatspartei, die den "Entstaatlichungstrend" der Europäischen Konservativen in Brüssel bereitwillig mitgemacht hat und nun feststellt, dass sie sich kaum mehr zu argumentieren getraut, warum es staatlichen Einfluss und staatliche Lenkung am Ende doch noch brauche. Es gebe keine europäische Linke, die für ihr Verständnis von einem geeinten Europa kämpfe, schrieb etwa Yannik Haan, Sprecher des Forums Netzpolitik der Berliner SPD, nach den desaströs verlorenen Landtagswahlen in der Zeit.

IV.

Es fehlt eine sozialdemokratische Wirtschaftspolitik. Man müsse in großem Maße investieren, "damit die Menschen wieder Hoffnung schöpfen", meint der ehemalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer und jetzige Politikberater Josef Kalina. Die Stimmung in Österreich und in ganz Europa sei extrem pessimistisch. Und viele Regierende (vor allem die rot-schwarze Koalition in Österreich) brächten es nicht zustande, Politikerfolge wie etwa die jüngste Steuerentlastung positiv zu kommunizieren. Stattdessen lasse man sich, im Verein mit der ÖVP, auf die nächste Sparpaketsdiskussion ein. Kalina: "Das ist tödlich." Dazu komme, dass die SPÖ ihr "ureigenstes Thema", die Verteilungsgerechtigkeit, scheinbar kampflos aufgegeben habe.

"Werner, der Kurs stimmt!" – Acht Tage nach dem 1. Mai trat Werner Faymann zurück.
Foto: STANDARD/(Newald

Ob staatlicher Interventionismus das Heilmittel sein kann, wird von vielen Experten bezweifelt. Indes sind sich aber alle einig, dass es, speziell in Österreich, kein unternehmensfreundliches Klima gebe. Kaum jemand fühlt sich für die "neuen Selbstständigen", die "Ich-AGs", die Einpersonenfirmen im High-End-Bereich zuständig. Hier läge ein Feld brach, das die Sozialdemokraten nur beackern müssten – wenn sie ihre eigenen Regulierungsdogmen über Bord werfen könnten.

Es scheint auch, als hätten viele sozialdemokratische Parteien in Europa den Anschluss an eine sich immer schneller verändernde ökonomische Realität verpasst. Die fortschreitende Digitalisierung macht vor keiner Branche halt, es werden viele Arbeitsplätze verlorengehen. Nicht nur im Handel, auch im hoch qualifizierten Bereich. Dafür wird es neue Jobs geben. Europas Sozialdemokratie hat weder einen Plan noch eine Antwort auf die Frage: Wie schaut Wirtschaft 4.0 aus?

V.

Die jetzige Generation der 55-plus-Politiker hat die Bodenhaftung und die Verbindung zum Volk verloren. Ein gewisses Unverständnis für das Leben der "Basis" ziehe sich durch viele Funktionärsebenen, analysiert etwa Brigitte Ederer. Außerdem habe die Generation "55 plus", die derzeit am Ruder ist, gelernt, dass man für unpopuläre Entscheidungen (siehe Schröder) auch abgewählt werden könne. Übrig bleibe vielfach ein "Nicht zu viel wollen, nicht zu exponiert für etwas kämpfen, nicht anecken", sagt die ehemalige SPÖ-Spitzenpolitikerin und Topmanagerin.

Dazu kommt, dass man viele Debatten und Meinungsbildungsprozesse, die immer mehr über soziale Medien laufen, schlicht nicht mehr mitkriegt – viele sozialdemokratische Parteien haben Schwierigkeiten, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden. Versuche, sich die neuen Medien zunutze zu machen, wirken bisweilen tollpatschig bis komisch – Stichwort Faymann auf Facebook. Viele Themen werden schlichtweg verpasst.

TTIP-Demo in Berlin.
Foto: APA/Steinberg

Ein Beispiel dazu auch aus Deutschland: Während in Berlin 100.000 Menschen gegen das Freihandelsabkommen TTIP demonstrierten, unter ihnen viele sozialdemokratische Funktionäre und auch Wähler, schaltete der sozialdemokratische Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel Anzeigen in großen Tageszeitungen, um für das Abkommen zu werben. Die SPD, wetterte Jung-Genosse Haan, sei also "ein bisschen für Freihandel, aber dann auch wieder nicht".

Ideologen gegen Pragmatiker

Auch über den Ausweg aus der roten Krise ist man vollends uneinig – nicht nur in Österreich: Geht der Weg nach links, wie viele, vor allem Junge, meinen, die sich heute etwa in der "Sektion 8", im "Kompass", beim Kongress "Momentum" oder in anderen Reformgruppen engagieren? Immerhin: Während die "alte Tante" SPÖ mit ihren Parteibüchern, Sektionen und Gremien an galoppierendem Mitgliederschwund leidet, erfreuen sich die kritischen Underdogs lebhaften Zulaufs. Ihnen allen ist gemein, dass sie auf ebenjene "europäische Linke" hinarbeiten, nach der sie, nach Lehman-Brothers-Krise und Griechenland-Desaster, ein hohes Bedürfnis in Europa sehen. Ihre Helden heißen Jeremy Corbyn, Bernie Sanders oder Podemos. Sie pfeifen auf gewachsene Strukturen, bewegen sich virtuos im digitalen Raum und halten die Mutterpartei für nahezu unrettbar verzopft.

Victor Adler, Gründer der Sozialdemokraten in Österreich.
Foto: Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA); Wien

Auf der anderen Seite stehen jene Pragmatiker, die meinen, mit Ideologie allein sei längst nichts mehr zu holen. Sie setzen im Wesentlichen auf die alten Werte "Wohlstand durch Wachstum", mehr Verteilungsgerechtigkeit, aber auch darauf, dass man dem Mittelstand entgegenkommen müsse, der jetzt schon das Gefühl habe, alles allein schultern zu müssen – und selbst immer weniger dafür herauszubekommen.

Er fürchte sich "vor den rechten Pragmatikern genauso wie vor den linken Utopisten", sagte ein sozialdemokratischer Wirtschaftstreibender kürzlich zum STANDARD. Und: "Wir sind keine Arbeiterpartei mehr. Wir sind eine Transferleistungspartei."

Vielleicht sind den Sozialdemokraten die einfachen Botschaften abhandengekommen. Unter Victor Adler ging es um die Besserung der sozialen Lage der Arbeiter, unter Bruno Kreisky um die Modernisierung und Durchlüftung der verstaubten Republik. Kerngedanke des Neoliberalismus ist die Freiheit, ewiger Traum der Menschheit, der daneben "Fortschritt und Wohlstand" alt und hohl aussehen ließ. "Absicherung", "Sicherheit", linke Slogans der jüngeren Vergangenheit, klingen auch nicht sehr sexy.

Es scheint, als bräuchten Europas Sozialdemokraten einen ganzen ÖBB-Zug voller Wunderwuzzis – ohne Erfolgsgarantie. (Petra Stuiber, 14.5.2016)