Die russischen TV-Zuschauer fanden Jamala toll. Nur die armenische Sängerin bekam von ihnen mehr Anrufe. Die Fernsehzuschauer in der Ukraine riefen wiederum am meisten für Russland an. Es waren die Jurys, die sich gegenseitig ignorierten. Deshalb ist der ukrainische Sieg politisch und unpolitisch zugleich. Es sind die von den öffentlich-rechtlichen Sendern nominierten Jury-Mitglieder, die in vorauseilendem Gehorsam votierten. Den Zuschauern war das aber herzlich egal. Die stimmten für das, was ihnen am besten gefiel, Konflikte hin oder her. Das ist der Spirit von Eurovision!
Es gab ihm Vorfeld viele Stimmen die meinten, der ukrainische Beitrag hätte gar nicht erlaubt werden dürfen, da er zu politisch sei. Tatsächlich sind politische Songs nicht erlaubt, aber das war "1944" von Jamala auch gar nicht. Der Text erinnert an das Schicksal der Großmutter auf der Krim, und wie diese als Krimtatarin von dort deportiert wurde. Es hatte zuvor schon Beiträge gegeben, in denen das Schicksal früherer Generationen besungen wurde, und in einem Europa mit seiner Geschichte können diese Erinnerungen gar nicht oft genug erzählt und besungen werden.
Jamala ist eine großartige Künstlerin, die schon vier Alben herausgebracht und eine ganze Reihe von wunderschönen Songs komponiert hat. Ihre Stimme und ihre Art zu singen mag nicht jedermanns Sache sein, aber eines ist die Krimtatarin ganz sicher: Eine würdige Siegerin des Eurovision Song Contest. "1944" vermag drei Minuten zu fesseln, und darauf kommt es bei diesem Bewerb nun einmal an.
Österreich als Publikumsliebling
Zoë hat ihre Sache gut gemacht. Ihr erfrischender Auftritt hat vor Ort eine Begeisterungswelle erzeugt. Egal wo sie auftrat, sie war der Star. Die Befürchtung war groß, "Loin d’ici" könnte mehr ein Fan-Bubble-Hit sein und die Zuschauer vor den TV-Geräten würden so etwas möglicherweise weniger mögen. So war es aber nicht. Die Zuschauer Europas wählten Österreich auf Platz Acht. Es waren die Jurys (außer aus Frankreich und den Niederlanden) die "Loin d’ici" nicht mochten. Schade.
Der ORF hat dieses Jahr wieder einmal einen guten Job gemacht. Die österreichische Delegation galt bei den bisherigen Gastgebern als unkompliziert, freundlich und gut organisiert. Diesem Ruf wurde die Delegation auch heuer wieder gerecht. Eine schöne Tradition sind mittlerweile die "Free Hugs", die Österreich seit 2014 vor Ort ebenso mit vertreten.
Ö3-Musikjournalist Eberhard Forcher als ESC-Headhunter zu engagieren war eine goldrichtige Entscheidung. Er hat gute Songs ausgewählt und ich glaube, auch eine Elly V. oder ein Sankil Jones hätten in Stockholm hervorragend reüssieren können. Ich hoffe, Forcher erhält schon kommenden Dienstag den Auftrag, die Acts für 2017 zu suchen.
Routinierte Schweden
Das Gastgeberland hat seine Sache ebenfalls gut gemacht. Das Song-Contest-verrückte Schweden kann es einfach und hat das schon häufig bewiesen. Routine war auch das, was man am meisten zu spüren bekam, daher fehlte es etwas an der Wiener Leidenschaft von 2015, und es fehlte an der Begeisterung, die die österreichischen Volunteers letztes Jahr verbreitet hatten. Das hörte man hier vor Ort sehr oft.
Eine Schwedin ist endgültig in den ESC-Olymp aufgestiegen: Moderatorin Petra Mede, der eigentliche Star des ganzen Bewerbs. Die Art und Weise wie sie Würde und Selbstironie zu vereinen weiß ist einfach zum Niederknien.
Ukraine 2017
Bei ihrer Sieges-Pressekonferenz bekamen Jamala und die ukrainische Delegation das Welcome-Package für die Austragung 2017 seitens des ESC-Produktionsleiters Jan Ola Sand. Dieser sagte mehrmals, dass er davon ausgehe, dass der Song Contest 2017 sicher für alle sein werde, und alle Delegationen willkommen sein müssen. Dies klang nicht mehr nur wie eine höfliche Aufforderung, sondern schon fast wie eine kleine Drohung. Russland wird 2017 hoffentlich dabei sein. Denn das wäre dem Geist von Eurovision entsprechend.
Europa kann Eurovision übrigens gerade auch wirklich sehr gut brauchen. In Zeiten vieler Konflkte, Kriege, Krisen und aufgebauten Zäunen statt "Building Bridges" ist das gemeinsame Feiern mittels Musik eine feine Sache, die wohl nichts retten kann, aber ein Zeichen zu setzen vermag.
Wir lesen uns wieder aus der Ukraine 2017. Aus einem Land im Krieg. (Marco Schreuder, 15.5.2016)