Österreich rückte seit dem Zweiten Weltkrieg viermal in den Mittelpunkt der Weltöffentlichkeit: bei der Unterzeichnung des Staatsvertrags als einem weithin sichtbaren Zeichen für die Ost-West-Entspannung; wegen des bewundernswerten Mutes 1956-57 bei der Aufnahme von fast 200.000 Ungarnflüchtlingen; nach der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten im Juli 1986 und im Februar 2000 nach der Bildung der ÖVP-FPÖ-Koalitionsregierung. Als langjähriger Korrespondent der Financial Times und als ORF-Kommentator habe ich diese dramatischen Ereignisse nicht als Zuschauer miterlebt.

Als überzeugter Österreicher ohne Parteibuch war ich sowohl 1986 als auch 2000 überzeugt davon, dass die Zweite Republik, ein Modell des sozialen Friedens und der politischen Stabilität, trotz aller Fehler maßlos übertriebenen und zutiefst heuchlerischen Angriffen ausgesetzt war. Diese Meinung vertrat ich in Schrift und Wort, auch bei Auftritten im Ausland, von Washington bis Jerusalem.

Alarmsignal für Österreich

Deshalb war ich besorgt, als die New York Times, eines der einflussreichsten Blätter der Welt, am Freitag in einem Leitartikel mit dem Titel "Österreich und die Zukunft Europas" den Rücktritt von Bundeskanzler Faymann und die Siegeschancen des FPÖ-Kandidaten bei der Präsidentenwahl als ein Alarmsignal für Österreich und sogar für Europa kommentierte. Ähnliche Stimmen hörte man auch aus Brüssel und Berlin, während sich die Wortführer der rechtsradikalen, nationalistischen Parteien im ganz Europa vor Begeisterung über den Vormarsch des EU-feindlichen Kandidaten fast überschlugen. Besonders bemerkenswert war übrigens die an die Adresse der ÖVP gerichtete Mahnung der New York Times, sie sollte jeder Versuchung eines politischen Bündnisses mit der FPÖ widerstehen.

Unbehagen in der Gesellschaft

Die Reaktionen der Mehrheit der österreichischen Öffentlichkeit während der Waldheim-Affäre und nach den Sanktionen gegen die schwarz-blaue Regierung haben allerdings immer wieder gezeigt, dass ungerechtfertigte Pauschalangriffe gegen Österreich kontraproduktiv wirken. Das Schicksal eines Landes hängt in erster Linie von der Haltung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite und von den Entscheidungen der Wähler ab. Die Tatsache allerdings, dass eine pensionierte Richterin ohne jegliche politische Erfahrung, die nicht den Mut hat, sich bei der Stichwahl für den Kandidaten des europäischen Österreichs auszusprechen, immerhin 18 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang erhält, war ein untrügliches Zeichen für das Unbehagen in der Gesellschaft.

Sebastian Haffner, der große deutsche Publizist, hat in seinen Büchern die Vorboten des Niedergangs der deutschen Demokratie in den 30er-Jahren überzeugend geschildert. Wenn heute international anerkannte Persönlichkeiten wie Hugo Portisch und Christoph Waltz, aber auch herausragende VP-und SP-Politiker ihre Wahlempfehlung für Alexander Van der Bellen mit Österreichs Rolle in Europa und mit der Sorge um Österreichs Ansehen in der Welt begründen, dann glaube ich, muss man auch die Mahnung der New York Times nicht als Einmischung von außen, sondern als einen rechtzeitigen, ja überfälligen Weckruf begrüßen. (Paul Lendvai, 16.5.2016)