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Lassana Bathily rettete einer Gruppe Juden in einem Pariser Supermarkt das Leben. Dafür wurde ihm im März 2015 die Medal of Honor im Simon Wiesenthal Center in Beverly Hills verliehen.

Foto: REUTERS/KEVORK DJANSEZIAN

Ich weiß nicht genau, wann die letzte Judenselektion in einem Konzentrationslager stattfindet. Vielleicht sind die Todesmärsche auch eine Art Selektion? Nach der letzten Selektion. Und vielleicht ist die feucht-fröhliche Erschießung von 200 Juden beim Kreuzstadl im burgenländischen Rechnitz in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 die allerletzte Selektion? Dann fällt mir ein: Die letzte Selektion findet in Entebbe statt. Im fernen Afrika ...

Ich bin kein Nazi! Ich bin Idealist!

Ich bin kein Nazi! Ich bin Idealist! Das antwortet Wilfried Böse, Flugzeugentführer und Gründungsmitglied der "Revolutionären Zellen", im Juni 1976 einem Passagier der Air France 139, als dieser Böse seinen Unterarm mit der eintätovierten Häftlingsnummer aus Auschwitz zeigt.

Wilfried Böse ist Deutscher, und er hilft seinen arabischen Freunden von der Volksfront zur Befreiung Palästinas, auch die Juden unter den Passagieren zu finden, die keinen israelischen Reisepass haben. Die Palästinenser kennen sich nicht so gut aus wie der Deutsche. Wilfried Böse – der "Kein-Nazi-sondern-Idealist" – macht es wie die Nazis: Er veranstaltet eine Selektion.

Wer einen jüdisch klingenden Namen wie Goldbaum oder Finkelstein im Reisepass hat, wird selektiert und in einen separierten Bereich des alten Terminals auf dem Flughafen von Entebbe zu den israelischen Juden gesperrt. Erst später fällt auf, dass einige der Selektierten gar keine Juden sind, sondern nur Namen haben, die halt "jüdisch klingen". Aber abgesehen von dieser kleinen Schlampigkeit aus Vorurteil, läuft alles genauso perfekt wie damals bei den echten Nazis auf der Rampe von Auschwitz.

Was dazugesagt werden muss, ist sehr wichtig! Wilfried Böse, der deutsche "Idealist", führt diese Selektion persönlich durch, weil sich die französische Besatzung des Flugzeugs weigert. So wie sich die französische Besatzung weigert, ohne die jüdischen Passagiere ausgeflogen zu werden und dazu erst gezwungen werden muss. Der Rest, wie man so schön sagt, ist Geschichte. Oder doch nicht.

Volksfront von Judäa – Spalter!

Die Selektion in Entebbe führt zu einer virtuellen Selektion unter den Linken Europas. Wer hätte sowas gedacht? Die ausgrenzende Frage lautet damals in etwa so: "Wie antizionistisch darf man sein, ohne antisemitisch zu werden?" Ein prominenter, aber verzweifelter deutscher Linker gibt – ich muss gestehen, zu meiner großen Erheiterung – die Antwort als neues linkes Dogma: "Ein Linker kann niemals ein Antisemit sein!"

Seitdem gibt es linke, nichtjüdische Zionisten. Die spalten sich von den linken, nichtjüdischen Antizionisten ab. Selektiert durch ein Dogma eines deutschen Linken. Zuletzt sehe ich die Spalter bei den Kundgebungen gegen den Al-Kuds-Tag in Wien. Das sind die Linken, die eine Demonstration gegen religiösen Terror nicht erst mit dem Protest gegen die Siedlungspolitik Israels verknüpfen müssen, um überhaupt gegen Klerikalfaschismus zu demonstrieren. Was mir sympathisch ist. Aber auch diese Selbstselektion der Linken ist wohl nicht das Ende der Selektionen im Polygon von Antisemitismus, Antizionismus, ihrer Schnittmenge und der Linken Europas.

Weil mir einfällt, dass die letzte Selektion von Juden in einem Supermarkt stattfindet, am 9. Jänner 2015.

Wegen der Juden

An diesem Tag liegt die Redaktion von "Charlie Hebdo" seit knapp 48 Stunden in der Leichenkammer der Prosektur von Paris und Amedy Coulibaly nimmt am 9. Jänner 2015 in einem koscheren Supermarkt im Osten von Paris Juden als Geiseln. Den Supermarkt, so sagt er im telefonischen Interview, sucht er "wegen der Juden" aus. Und er sagt, er sei Mitglied einer bekannten religiösen Terrororganisation, und seine jüdischen Geiseln müssten für die Verbrechen an seinen Glaubensbrüdern in Mali bestraft werden. Dieses dummdreiste Gefasel ist die Begründung für das gewissenlose Auslöschen von vier Menschenleben.

Coulibaly selektiert die Juden François-Michel Saada und Philippe Braham für eine Hinrichtung, die er kaltblütig ausführt. Zwei andere zur Hinrichtung selektierte Juden, Yoav Hattab und Yohan Cohen, sterben hingegen beim Versuch, Coulibaly zu überwältigen. Diese beiden Juden wollen sich nicht kampflos zur Schlachtbank führen lassen und haben dabei wohl die kämpfenden Juden aus dem Ghetto von Warschau im Sinn.

Lassana Bathily, ein Angestellter des Supermarktes, rettet eine Gruppe Juden vor der Selektion, indem er sie in der Kühlkammer einsperrt. Auch hier ist es wichtig, etwas dazu zu sagen: Antisemit Coulibaly und seine jüdischen Opfer sind Franzosen, Lassana Bathily, der Judenretter, ist aus Mali und ein Angehöriger derselben Religion wie der Judenmörder Coulibaly.

Diese aberwitzige Konstellation von Täter, Opfer und Retter ist geeignet, um in einem einzigen Atemzug gleichzeitig Vorurteile zu bestätigen und zu widerlegen. Ich glaube, man sagt dann, dies sei eine Ironie der Geschichte.

Bäumchen, wechsel dich

Als zynisch gewordener Linker kann ich nur dreierlei feststellen. Erstens: Zum ersten Mal nach 1945, nach den Olympischen Spielen in München 1972 und nach dem Anschlag auf den El-Al-Schalter auf dem Wiener Flughafen 1985 werden wieder Juden in Europa ermordet, nur weil sie Juden sind. Und zweitens: Es bedarf keiner Nazis mehr, um Juden zu ermorden, nur weil sie Juden sind. Diesen Job übernehmen nach 1945 erst bewaffnete palästinensische, antizionistische Nationalisten und bewaffnete linke Antizionisten. Und in unserer Zeit bewaffnete antisemitische und antizionistische Religionsfanatiker, die heute noch gefährlicher für die Juden in Europa sind als die neuen Nazis. Offenbar – so sei nebenher bemerkt – ist eine "Judenphobie" am Werk, die nur Gestalt und Akteure wechselt. Wie ein unsterbliches Chamäleon.

Schließlich drittens: Irgendwie, so scheint mir, ist den Antisemiten und Antizionisten dieser Welt jeder auch noch so abenteuerliche Vorwand nicht zu deppert, um Juden für Ermordungen zu selektieren. Und irgendwie, so scheint mir, vergessen alle, die den Slogan "Je suis Charlie" auf T-Shirts, Plakaten, Facebook und sonstwo präsentieren – dazuzusagen, dass sie auch François-Michel Saada, Philippe Braham, Yoav Hattab, Yohan Cohen und Lassana Bathily sind. Was sehr wichtig wäre.

Ein Judenwitz zum Schluss?

Ich habe einen ausgesucht, der auf der Rampe von Auschwitz, bei einem Burschenschafterball, an jedem Al-Kuds-Tag und im Freundeskreis mancher Zahntechniker gleichermaßen zuverlässig fürs Schenkelklopfen und die Lachtränen sorgt: Warum haben Juden so große Nasen? Weil die Luft gratis ist! (Bogumil Balkansky, 18.5.2016)