Mit rund 70.000 ehrenamtlichen Autoren ist Wikipedia bislang die größte Kollaboration der Menschheitsgeschichte. Doch eine neue Analyse zeigt, dass die Online-Enzyklopädie zunehmend elitärer wird.

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Jinhyuk Yun ist Physiker am KAIST in Südkorea.

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Wer an die kulturpessimistische Skepsis zurückdenkt, mit der die Wissensplattform Wikipedia noch vor ein paar Jahren gescholten wurde, muss sich mittlerweile ein wenig so vorkommen wie 16-Jährige beim Anblick eines Diskettenlaufwerks. Mit rund 70.000 ehrenamtlichen Autoren in über 100 Sprachen bildet sie die bislang größte Kollaboration in der Menschheitsgeschichte. Schwer auszudenken, dass wir einmal ohne sie auskommen sollten. Der 29-jährige Physiker Jinhyuk Yun sagt dennoch: "Wenn wir nichts gegen die wachsende Ungleichheit unternehmen, könnte Wikipedia schon bald zusammenbrechen."

Seine Alma Mater liegt rund anderthalb Autostunden südlich von Seoul. Das Korea Advanced Institute for Science and Technology (KAIST) gleicht einem akademischen Elfenbeinturm inmitten der koreanischen Vorstadttristesse, es gilt als Kaderschmiede für die naturwissenschaftliche Elite Südkoreas. Im Reuters-Ranking der innovativsten Universitäten weltweit hat es das KAIST im Vorjahr als einzige nichtamerikanische Universität unter die besten zehn geschafft.

Hier hat nun ein junges Forscherteam die vielleicht fundierteste Wikipedia-Kritik vorgelegt, die den Betreibern in San Francisco graue Haare bereiten dürfte. Es ließ die gesamte Wikipedia-Historie zwischen 2001 und 2014 durch ihre Datenserver laufen: über 34 Millionen Artikel, fast 590 Millionen Änderungseinträge, zwei komplette Wochen Prozessoren-Arbeit. "Wir wollten anhand dieser Grundlage überprüfen: Nach welchen Mustern wird unser kollektives Wissen kreiert?", sagt Jinhyuk Yun. Mit anderen Worten: Wie tickt Wikipedia?

Kurz nach seiner Gründung 2001 hat man dem Online-Lexikon noch wenig Chancen auf eine nachhaltige Zukunft eingeräumt, vor allem weil es keinerlei Beschränkungen für die Autoren der Plattform gab: Jeder, der Internetzugang besitzt, kann an den Artikeln mitwerken. Ausgerechnet diese Niederschwelligkeit führte jedoch zum Aufstieg von Wikipedia und gleichzeitig zur bisher wohl öffentlichkeitswirksamsten Verifizierung der Schwarmintelligenz-These überhaupt.

Mittlerweile ist längst hinreichend dokumentiert, dass Wikipedia zuverlässiger funktioniert als herkömmliche Nachschlagewerke wie etwa die Encyclopedia Britannica. Gerichte berufen sich inzwischen bei Urteilen auf Wikipedia, und selbst wissenschaftliche Publikationen zitieren zunehmend daraus. Die Egalisierungsutopie wurde breiter Konsens: Wikipedia würde mit der Zeit immer akkurater und auch demokratischer werden.

Immer weniger Autoren

Dann jedoch kehrte sich die Entwicklung wie ein Pendelschlag um: Die Zahl der Autoren begann zu schrumpfen und mit ihnen der Einfluss einiger weniger "super editors" zu wachsen. Taha Yasseri vom Oxford Internet Institute prägte erstmals den Begriff der "super editors", die sich vor allem durch ihre exzessive Autorenschaft bei Wikipedia-Artikeln auszeichnen. Ohne Einfluss hierarchischer Interventionen zeigten sich Zentralisierungstendenzen. Die Studie der koreanischen Forscher kommt nun zu dem Ergebnis: Diese Ungleichheit wird über die Jahre immer stärker.

Die Wissenschafter untersuchten sowohl die Interaktionen der Autoren als auch die Struktur der Artikel über die Jahre. Als erste Forscher integrierten sie den Faktor Echtzeit in ihre Analyse. Bald entdeckten sie wiederkehrende Muster: Insgesamt ließen sich fast alle Artikel in vier Kategorien einteilen, die sich deutlich voneinander abgrenzen – je nach Häufigkeit der Änderungen sowie der durchschnittlichen Länge pro Artikel-Editierung. Überraschenderweise zeigten sich untereinander keine Korrelationen: Ob Artikel häufig oder selten geändert werden, sagt nichts darüber aus, wie diese mit der Zeit wachsen.

Die wohl interessanteste Erkenntnis betrifft jene Artikel, die häufig bearbeitet werden: Meist handelt es sich dabei um kontroverse Themen, etwa die Anschläge vom 11. September. Manchmal sind es aber auch scheinbar banale Fragen wie die Reihenfolge der Beatles-Mitglieder (alphabetisch geordnet oder nach Relevanz?). Solche Artikel werden oft im Sekundentakt geändert, nicht selten mehrere Tausend Mal im Jahr. In den Medien fanden sie unter dem Schlagwort "Wikipedia-Kriege" Eingang in unseren Sprachschatz.

Aufgrund ihrer polarisierenden Natur üben sie zwar für Autoren einerseits den größten Reiz aus, sie aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig jedoch sinkt bei jenen besonders häufig editierten Artikeln die Anzahl an Nutzern mit der Zeit am drastischsten. Mit anderen Worten ausgedrückt: Die meistdiskutierten Artikel werden schlussendlich von einigen wenigen Individuen dominiert. Durch ihre Hartnäckigkeit bauen die "super editors" einen elitären Zirkel auf – und schrecken potenzielle neue Autoren ab.

Kein Generalverdacht

Yun betont, weder die Verdienste der "super editors" kleinreden zu wollen noch sie unter Generalverdacht zu stellen, auf Gehaltslisten von PR-Firmen zu stehen. "Kurzfristig sagt die Anzahl der Autoren eines Artikels nichts über dessen Qualität aus. Langfristig glauben wir aber, dass die Entwicklung der sinkenden Autorenzahlen zur existenziellen Bedrohung für Wikipedia wird."

Bereits 2014 legte eine Studie des Journalisten Marvin Oppong offen, wie sowohl Unternehmen als auch Parteien und Einzelpersonen Inhalte systematisch und themenübergreifend manipulieren. Als Lösungsansatz forderte Oppong damals unter anderem zusätzliche Informationsangebote für neue Autoren, eine verstärkte Verifizierung von Wiki-Nutzern wie auch Sanktionen für Verstöße gegen den Ethikkodex.

"Weil die Inhalte für die Menschheit so wertvoll sind, bin ich optimistisch, dass sie nicht einfach verschwinden werden", sagt Koautor Sang Hoon Lee: "Bei der Institution Wikipedia selbst bin ich mir da nicht so sicher." (Fabian Kretschmer aus Daejeon, 21.5.2016)