STANDARD: Die russische Küche ist nicht so populär wie die französische oder nordische. Wie wollen Sie das ändern?

Mukhin: Ich will vor allem, dass russische Küche nach Russland schmeckt. Das Land ist riesig, und wir haben so viele gute Produzenten hier. Als ich begonnen habe zu kochen, hat mich meine Großmutter auf die Seite genommen und mir gesagt, dass das, was ich in der Schule lerne, nichts mit der eigentlichen Küche Russlands zu tun habe.

Vladimir Mukhin kocht in seinem Restaurant White Rabbit mitten in Moskau mit Blick auf das Außenministerium.
Foto: White Rabbit

STANDARD: Wie definieren Sie die Küche Russlands?

Mukhin: Ich musste sehr viel über russisches Essen lernen. Wir haben eine lange Geschichte. In der Sowjetunion gab es fast kein russisches Essen. Die Küche ist aber so vielfältig, und das Land ist so reich an tollen Produkten. Ich will mit meinem Essen durch Erinnerungen an die Kindheit Emotionen hervorrufen. Ich esse beispielsweise einen geräucherten Fisch und erinnere mich sofort daran, wie ich als Kind bei meiner Großmutter in der Küche gesessen bin. Vor vielen Hundert Jahren konnte kaum jemand schreiben oder lesen. Aber man konnte kochen. Das war die ehrliche und traditionelle Küche Russlands. Und diese Küche will ich mit meinen Gerichten wiederbeleben.

STANDARD: Das heißt, Sie interpretieren bekannte Gerichte neu?

Mukhin: Genau. Wir haben dazu auch das White Rabbit Lab gegründet, wo wir neue Techniken ausprobieren und dem Geschmack Russlands auf den Grund gehen. Wenn das Ergebnis so ist, wie wir uns das vorstellen, kommt das Gericht auf die Karte.

STANDARD: Das Handelsembargo zwingt Köche, mit lokalen Produkten zu arbeiten. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Mukhin: Das Positive am Embargo ist, dass sich vieles in der russischen Küche geändert hat und man jetzt wieder mit spannenden Produkten aus dem eigenen Land arbeitet. In Moskau zum Beispiel waren die italienische und die japanische Küche eine Zeit lang sehr beliebt. Natürlich schmeckt italienischer Käse toll, er gehört aber zu Italien und nicht zu Russland. Wir machen jetzt unseren eigenen, russischen Käse.

STANDARD: Isst man in Russland überhaupt viel Käse?

Mukhin: Wir essen vor allem viel Frischkäse und Sauerrahm. Das ist typisch russisch. Und genau darum geht es – wieder mit ursprünglichen Dingen zu kochen.

STANDARD: Das klingt ein bisschen, als wäre das Land aus dem Winterschlaf erwacht.

Mukhin: Ja, so ist es. Wir haben auf einmal Dinge wie Blüten oder fermentierten Honig wiederentdeckt. Bereits vor 500 Jahren hat man in Russland Honig abgefüllt und ihn 15 Jahre lang stehengelassen, bevor man ihn getrunken hat. Es war eine Tradition, dass man den Honig zur Geburt eines Kindes ansetzt, und zum 15. Geburtstag durfte das Kind diesen Honig und damit das erste alkoholische Getränk trinken.

Und genau so einen Honigwein habe ich auf einer meiner Reisen entdeckt. Vor ein paar Jahren hat kaum jemand in Russland saisonale oder regionale Produkte verwendet. Da hat man zum Beispiel Himbeeren im September gekauft. Das finde ich eigenartig.

Schwarzer Rettich mit Honig soll Kindheitserinnerungen wecken.
Foto: Rolling Pin

STANDARD: Und das ist jetzt anders?

Mukhin: Ja, Gott sei Dank. Viele Restaurants haben begonnen, umzudenken. Heute kann man in Russland, vor allem in Moskau, wieder sehr gut essen gehen. Das war lange Zeit nicht so.

STANDARD: Gibt es kein Produkt, das Sie vermissen?

Mukhin: Ich vermisse bretonische Austern. Aber es gibt viele großartige Dinge, von denen manche Russen noch nie etwas gehört haben. Es gibt Leute in Zentralrussland, die noch nie Fisch gegessen haben, obwohl das Land am Schwarzen Meer liegt. Wer noch nie eine Rotbarbe aus dem Schwarzen Meer gegessen hat, weiß nicht, wie toll dieser Fisch schmeckt.

STANDARD: Was ist ein typisch russisches Gericht abseits von Borschtsch?

Mukhin: Wenn mich jemand nach einem typisch russischen Gericht fragt, gebe ich ihm Bambus aus Sotschi. Und er wird sagen: Das ist ja nicht aus Russland. Aber es ist typisch russisch. Wir machen zum Beispiel auch Wodka aus dem Bambus. Ein großer Teil Russlands ist teilasiatisch. Wir haben hier viele Leute aus gemischten Kulturen. Zum Beispiel die Uiguren. Wenn ich diese in Russland auf den Markt begleite, sagen sie, das ist aus Nordchina.

STANDARD: Bevor Sie Ihr Restaurant in Moskau eröffneten, haben Sie in Frankreich gekocht. Was hat Sie dazu bewogen, sich der russischen und nicht der viel populäreren französischen Küche anzunehmen?

Mukhin: Ich war in Avignon bei Sternekoch Christian Étienne. Christian wollte zu Weihnachten ein russisches Menü kochen. Ich habe ihm gesagt, dass das alles andere als russisch ist, was er da macht. Also haben wir gemeinsam gekocht. Da habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie toll russisches Essen sein kann.

STANDARD: Das war der Startschuss für Sie, Ihr eigenes Restaurant zu eröffnen?

Mukhin: Ja, ich bin nach Moskau zurück und habe begonnen, die Dinge ganz anders zu machen. Mit lokalen Produzenten habe ich ja schon lange vor dem Embargo gearbeitet. Das war auch einer der Gründe, warum unser Restaurant überall so bekannt wurde. Früher wäre kaum jemand in ein russisches Restaurant gegangen. Das wollte ich ändern.

STANDARD: In Ihrem Restaurant sieht es aus wie in einem Märchen. Was hat es damit auf sich?

Mukhin: Das Restaurant ist im Stil von Alice im Wunderland eingerichtet, weil es viel um Natur geht. Wenn man zu uns ins Restaurant will, muss man drei Aufzüge nehmen. Das ist ein bisschen wie in einem Labyrinth. Wir haben außerdem ein gastronomisches Theater geschaffen, in dem wir an manchen Tagen im Monat für eine gewisse Anzahl an Gästen Cocktails mit speziellem Essen servieren.

Unter der Glaskuppel isst man wie bei Alice im Wunderland.
Foto: Georges Desrues

STANDARD: Was macht ein perfektes Essen für Sie aus?

Ich finde, ein Gericht braucht nur drei, maximal vier Zutaten, um perfekt zu sein. Alles andere ist zu viel. Das Essen muss modern und neu aussehen und überraschen. Die Zutaten sollen aber traditionell sein.

STANDARD: Was sind traditionelle Zutaten für Sie?

Mukhin: Das ist eine Definitionsfrage. Olivenöl zum Beispiel. In Russland hat man lange Zeit kein Olivenöl zum Kochen verwendet. Wir haben es lediglich für Kerzen und zum Feuermachen verwendet. Das ist doch verrückt. Jeder kannte dieses Öl, aber niemand wäre auf die Idee gekommen, es zu essen. Erst im 18. Jahrhundert haben wir mit Olivenöl auch gekocht. (Alex Stranig, RONDO, 28.5.2016)