Auch Brexit-Werber Boris Johnson (li.) und Gegner David Cameron wissen wohl nicht, wer voranliegt.

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Das Wahlvolk bleibt ein unbekanntes Wesen, auch in Großbritannien. Eine verschwindend kleine Minderheit setzt sich leidenschaftlich für die europäische Identität der Insel ein, eine deutlich größere Minderheit, angeführt von den Nationalpopulisten Nigel Farage und Boris Johnson, möchte lieber heute als morgen die Leinen zum Kontinent lösen.

Was bekannt ist: Fast zwei Drittel der Briten bezeichnen sich als Euroskeptiker. Doch das bedeutet nicht automatisch Feindschaft gegenüber den EU-Institutionen. Und es bedeutet auch nicht zwingend ein Votum für den Austritt beim Referendum am 23. Juni. Klar ist aber: Die Mehrheit jedenfalls möchte sich mit dem leidigen Europa-Thema möglichst wenig beschäftigen.

Das macht es für die Umfrageinstitute besonders schwer, fünf Wochen vor der Volksabstimmung das Ergebnis vorherzusagen. Vielmehr tragen die Demoskopen derzeit eher zur Verwirrung bei. Mit scheinbar absurden Ergebnissen treiben sie EU-Befürworter und Brexit-Kämpfer einmal zum Entzücken, einmal zur Verzweiflung. In Umfragen, deren Erhebungszeitraum nur Tage auseinanderliegt, finden sich beide Seiten einmal gleichauf, dann wieder liegen die Befürworter mit bis zu 15 Punkten Abstand voran. Beim nächsten Mal triumphiert das Brexit-Lager mit 52:48 Prozent. Auch beim Anteil der Unentschlossenen sind sich die Institute nicht einig: Die Schätzungen reichen von zehn bis 30 Prozent.

Woher kommen die enormen Schwankungen? Bei Befragungen zu Parlamentswahlen können die Sozialwissenschafter die Antworten gewichten: Wer beim letzten Mal Labour angekreuzt hat, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder der Partei Vertrauen schenken oder ins Lager der Nichtwähler wandern. Beim Referendum fehlt das Bezugssystem: Die letzte Abstimmung über die damalige EWG liegt 41 Jahre zurück. Mit diesen Daten lässt sich kaum noch etwas anfangen.

Irgendwo liegt die Wahrheit

Bei der Zustimmung oder Ablehnung der EU schwankt die Stimmung viel stärker, weiß die dänische Politologin Sara Hobolt von der London School of Economics (LSE): "Die Leute ändern ihre Meinung." Aus diesem Grund belegen beide Lager die Briten seit beinahe drei Monaten mit einem Werbetrommelfeuer. Das wiederum schreckt eine Reihe der 46 Millionen Wahlberechtigten ab – und vergrößert den Pool der angeblich Unentschlossenen. Die Leute würden sich weniger für Politik interessieren, als Profis wahrhaben wollen, sagt Anthony Wells von YouGov. Die Firma, die sich auf Internetumfragen stützt, hat zu Jahresbeginn ihr Sample verändert: "Wir hatten zu viele politisch Engagierte."

Die Firma ICM hat auf eine weitere Diskrepanz hingewiesen: jene zwischen Online- und Telefonbefragungen (siehe Grafik). Internetnutzer reden eher dem Brexit das Wort und geben sich seltener unentschlossen. Am Telefon bekennt sich eine Mehrheit zur EU, mehr zeigen sich zudem unentschieden. Bei der Interpretation klingt ICM-Mann Martin Boon wie ein Orakel: "Die Antwort dürfte irgendwo dazwischen liegen." (Sebastian Borger aus London, 19.5.2016)