Alexander Van der Bellen hat gegenüber dem ersten Wahldurchgang einen gewaltigen Rückstand von fast 14 Prozentpunkten auf den freiheitlichen Kandidaten Norbert Hofer aufzuholen, will er Bundespräsident werden. Das ist schwierig, aber nicht unmöglich. Die Ausgangslage: Hofer kam auf 35,2 Prozent, Van der Bellen, der als Favorit gegolten hatte, letztlich nur auf 21,3 Prozent.
Hofer kann wohl das freiheitliche Lager zur Gänze und darüber hinaus einen großen Teil der Protestwähler und der Unzufriedenen mobilisieren. Das sind viele. Ob das am Sonntag die Mehrheit sein wird, hängt davon ab, wie sich die Unentschlossenen entscheiden und wie viele sich aufraffen werden, überhaupt zur Wahl zu gehen.
Van der Bellen muss nicht nur das grüne Potenzial zur Gänze ausschöpfen, er ist angewiesen auf die Wähler, die am 24. April einem anderen Kandidaten die Stimme gegeben haben – auf die SPÖ- und ÖVP-Wähler und auf die Anhängerschaft, die die unabhängige Kandidatin Irmgard Griss hinter sich versammeln konnte. Bei Griss waren das beachtliche 19 Prozent, das sind mehr als 800.000 Wähler.
Am Mittwoch deklarierte sich die ehemalige Höchstrichterin: Griss unterstützt Van der Bellen, ihre Stimme hat sie ihm bereits gegeben – per Briefwahl. Das sei noch keine Wahlempfehlung, beeilte sie sich zu sagen. Griss plädierte aber dafür, zur Wahl zu gehen und abzustimmen, also nicht ungültig zu wählen. Für Van der Bellen ist das eine wichtige, vielleicht eine entscheidende Stimme, wenn viele Sympathisanten von Griss es ihr gleichtun.
Es wird nach diesem Sonntag nicht egal sein, wer in der Hofburg sitzt. Ein weltoffener Präsident oder ein nationalistisch verbrämter, der Österreich abschotten will. Einer, der die Toleranz hochhält, oder einer, der die Hetze im Programm führt.
Hinter Van der Bellen haben sich in den vergangenen drei Wochen viele Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, viele Kulturschaffende und viele Entscheidungsträger aus verschiedenen politischen Lagern versammelt. Hofer tat dies ab: Das sei die "Schickeria", die "Hautevolee", wie er abfällig meinte. Hinter ihm stünden dagegen die Menschen.
Menschen sind wir alle. Der Unterschied mag darin liegen, wie man miteinander umgeht. Mit Wertschätzung, Offenheit und Dialogbereitschaft – oder mit Hass, Angst und Herablassung. Da können alle noch etwas lernen, die einen mehr.
Viele SPÖ-Funktionäre haben sich bereits deklariert, am Dienstag tat dies auch der neue Kanzler Christian Kern, der erklärte, er werde Van der Bellen wählen. Auch viele Bürgerliche wie Erhard Busek, Josef Riegler, Josef Pröll und Othmar Karas haben sich für den Grünen ausgesprochen. So mancher ÖVP-Funktionär wird seine Stimme nur mit Bauchweh abgegeben und abwägen, was für ihn das kleinere Übel ist. Aber diese Abwägung lohnt sich. Um mit Van der Bellen zu sprechen: Das wird arschknapp. (Michael Völker, 18.5.2016)