Wie immer die Wahlen ausgehen – eines ist bereits sicher: Es werden wesentlich weniger Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, als dazu berechtigt sind. Am deutlichsten zeigte sich das Desinteresse bei den Europawahlen 2014: Nur 42,54 Prozent der österreichischen Wahlberechtigten schritten zur Urne. Beim ersten Durchgang zur Wahl des Bundespräsidenten erbrachte der Urnengang mit 68,5 Prozent die zweitniedrigste Wahlbeteiligung, seit es Präsidentschaftswahlen gibt. Von 6.380.605 sind 4.370.715 Personen zur Wahl gegangen, die Zahl der Nichtwähler beträgt demnach über zwei Millionen.
Bei den Europawahlen 2014 gab es auch erfreulichere Werte: Belgien 90,4, Luxemburg 85,5 Prozent. Die Ursache ist mehr als einfach: In diesen Ländern gibt es Wahlpflicht. Wer in Luxemburg nicht zur Wahl geht, riskiert ein Strafgeld von 100 bis 250 Euro. In Belgien kostet einmaliges Fernbleiben zwischen 25 und 50 Euro, wer viermal nicht wählen geht, wird für zehn Jahre aus dem Wahlregister gestrichen, darf während dieser Zeit in kein öffentliches Amt berufen werden und keine öffentliche Förderung oder Auszeichnung erhalten.
In Österreich gilt die allgemeine Wahlpflicht als überholt. Dabei ist es gar nicht allzu lange her, dass sie, zumindest in Teilen des Staates, vorgeschrieben war. Bis zum Jahr 1992 ermächtigte das Bundesverfassungsgesetz die Länder, die Wahlpflicht zu verordnen. Die Folgen der Aufhebung sind erheblich: In den Jahren vorher stand die Wahlbeteiligung durchwegs bei 90 Prozent und darüber, seither sinkt sie kontinuierlich: von 97 bei der ersten Wahl 1951 bis zu den jetzigen 68,5 Prozent – und das, obwohl 2007 das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt wurde.
Gewiss wäre es übertrieben, die sinkende Wahlbeteiligung ausschließlich auf die Aufhebung der Wahlpflicht zurückzuführen, ohne Zweifel besteht aber ein Zusammenhang, jedenfalls ein demokratiepolitisches Desiderat: Ein Staat sollte wissen, wie alle seine Bürger das Wirken seiner Regierung und die Ambitionen jener einschätzen, die das Land künftig regieren oder repräsentieren möchten, nicht nur zwei Drittel von ihnen. Wahlverpflichtung von vornherein als übertriebenen Zwang auszugeben würde das Wesen staatlichen Handelns verkennen. Der Staat zwingt seine Bürger zu vielerlei: Er verlangt von ihnen, Steuer zu zahlen, die Kinder in die Schule zu schicken, bei Rot die Kreuzung nicht zu überqueren und die Rettungsgasse freizuhalten. Warum sollte er nicht verlangen können, dass seine Bürger ihm Auskunft darüber geben, welche Vertreter sie im Nationalrat haben wollen, wer das Land regieren, wer Bundespräsident werden soll?
Sowohl die wahlwerbenden Gruppen als auch der Großteil der Berichterstatter kommentieren Wahlergebnisse stets so, als ob sie einen Prozentsatz der Gesamtheit der Wahlberechtigten repräsentieren würden: "Soundso viel Prozent der Österreicher haben die Partei X gewählt"; "Eine Mehrheit der Wähler hat ..." usw. Im Blick auf die tatsächliche Zahl der Wähler sind solche Aussagen schlicht falsch. Der Anteil von 35,1 Prozent des Kandidaten Hofer etwa würde, bezogen auf die Gesamtheit der Wahlberechtigten auf rund 24 Prozent schrumpfen, jener von van der Bellen auf rund 13 Prozent. Je weiter die Wahlbeteiligung sinkt, mit einem desto geringeren Anteil an den gesamten Wahlberechtigten lassen sich Wahlerfolge erzielen, je weniger repräsentativ das Wahlergebnis ist, umso eher lassen sich rele-vante Mehrheiten erreichen.
Nimmt man zudem an, dass die Wahlbeteiligung bei unterschiedlichen wahlwerbenden Gruppen unterschiedlich hoch ist, ergibt sich eine Verzerrung dessen, was gern als "Wählerwille" bezeichnet wird. Wenn etwa, wofür einiges spricht, rechte Protestwähler, die Politik im Sinne ihrer Ressentiments verändern wollen, in größerer Zahl mobilisierbar sind als jene, die mit den Verhältnissen in etwa zufrieden oder der Ansicht sind, dass sich so und so nichts ändert, wären solche Gruppierungen bei Wahlergebnissen im Verhältnis zur Gesamtheit der Wahlberechtigten überproportional repräsentiert. Unabhängig davon sollten die Bürger eines Staates wissen, welche politische Ideologie und welches politische Programm von welcher tatsächlichen Mehrheit unter ihnen unterstützt wird, eine Information, die nur durch die Verpflichtung aller Bürger zur Wahl erreicht werden kann.
Dass ein Drittel der Staatsbürger, die dazu berechtigt sind, ein Recht nicht wahrnehmen wollen, das seit dem Revolutionsjahr 1848 in heftigen Kämpfen errungen wurde, muss aufrechten Demokraten bitter aufstoßen. In seinem Traktat über den Staat äußert der griechische Philosoph Platon Zweifel an der Klugheit politischer Enthaltsamkeit: "Diejenigen, die zu klug sind, um sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft werden, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst." (Bernhard Rathmayr, 18.5.2016)