Der freundliche Autor vom Land nebenan: Joël Dicker. Der Schweizer schreibt auf Französisch. Die Schreibmaschine ist dabei aber wohl eher Accessoire.

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Wien – Ein Roger Federer der Literatur? Dazu haben die Medien den Französischschweizer Joël Dicker 2012 bei seinem Romandebüt Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ausgerufen. Ein Krimi, der sich, in über 40 Sprachen übersetzt, rund drei Millionen Mal verkauft hat. Auf das Tennis-Ass fehle ihm noch viel, antwortete der damals 28-jährige, frischgebackene Jurist auf die Schmeichelei: Federer habe sich schließlich über lange Zeit an der Spitze gehalten.

Ob Dicker das mit dem Nachfolgewerk gelingt? Marcus Goldman, ein junger Schriftsteller, ist wie im Erstling Hauptfigur und auch ein bisschen Alter Ego Dickers: jung, gut aussehend, ein "aufgehender Stern am Literaturhimmel". Im vom Erfolgsdebüt finanzierten Haus in Florida schreibt er an seinem neuen Wurf. Oder besser: Er versucht es. Denn die Inspiration bleibt aus, bis ihm ein Hund zuläuft. Der gehört einer alten Bekannten. Das öffnet alte Wunden.

Also versenkt Marcus sich in seine eigene Familiengeschichte bzw. die Geschichte der beiden Goldman-Familien: seiner eigenen, durchschnittlichen in Montclair, New Jersey, und der besseren, reichen, schönen, titelgebenden in Baltimore. Deren jüngste Sprosse sind sein Cousin Hillel, ein schmächtiges, aber gewitztes Kerlchen, und dessen Adoptivbruder Woody, ein aus dem Kinderheim gerettetes Sportler-Ass.

Geschickt verwebt Dicker damals und heute, erzählt in Rückblenden von gemeinsamen Sommern, Familientreffen, Problemen in der Schule, der ersten, nun wieder aufflammenden Liebe: "A-lex-an-dra". Die ist mittlerweile Halterin des besagten Hundes sowie Lieblings-Pop-Superstar der USA.

Dräuende Klischees

Und er erzählt, wie sich in diesem Gespann die "Katastrophe" entwickelt hat. 500 Seiten lang dräut sie dem geduldigen Leser. Währenddessen sind die Akteure weniger Charaktere denn Spielfiguren: Sie folgen brav den dramaturgischen Notwendigkeiten. Von steinerner Schönheit, fleischlos und blutleer, sind sie anschlussfähig, um weiter voran, aber nicht um in die Tiefe zu erzählen. Oberflächen von der Oberfläche aus gesehen. Nach diesem Prinzip reihen sich die Handlungen wie auf Schiene aneinander: vom Glanz hin zum Fall der zu Anfang strahlenden Familie.

Jonathan Franzen und John Irving bemühten manche Rezensenten bei Dickers Debüt als Vergleiche. Große amerikanische Erzähler. Passend dazu ziert den Umschlag des Buches mit dem episch klingenden Titel ein Gemälde Edward Hoppers. Dem Maler der Großstadteinsamkeit und Vorortbeunruhigung im pulsierenden Amerika der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Bei Dicker aber werden Ikonen des American Way of Life zu Klischees: Florida, die Hamptons, Thanksgiving-Essen, Privatschulen, Football-Stipendien und Milchshakes sind vor allem Heldenverehrung. Woher das Faible für die Staaten kommt? Als Kind hat Dicker viele Sommer bei Verwandten in Washington und deren Sommerhaus in Maine verbracht. Und die haben ihm ganz offensichtlich prima gefallen.

Filmreifer Showdown

Nur knapp 50 Seiten verwendet der Begeisterte schließlich auf den Bruch mit dem schönen Schein: Der Erfolg des Onkels verdankt sich unlauteren Mitteln, unter der Harmonie der Brüder schwelt eine Konkurrenz, hinter der Konkurrenz der Familien ein Geheimnis. Am Ende steht die "Katastrophe" als filmreifer Showdown. Und ähnelt mehr einem Feigenblatt für das bisherige Schwärmen denn einer Überzeugung. Eine spannendere, psychologisch getriebene Geschichte wäre hier erst aufgeblüht. Oder hätte mehr Schatten vorausgeworfen.

Entsprechend wenig bleibt von der Lektüre. "Die Zukunft gehört nicht den Büchern", heißt es einmal. Dagegen verwehrt Marcus sich. Aber: "Die Menschen wollen Bilder! Sie wollen nicht mehr nachdenken." Diesem Bedürfnis kommt Dicker nach. Er erzählt flüssig, seine Sprache ist "casual", dabei gepflegt. Alles ist genauso flott wieder vergessen, wie man es gelesen hat: dienlich dem reibungslosen Fortgang. Erlässliche, aber verlässliche Unterhaltungsliteratur voll an Hollywood erinnernder Settings, Rührelemente und Superlative. (Michael Wurmitzer, 20.5.2016)