
Rubelverfall und hohe Inflation drückten die Realeinkommen der Russen deutlich nach unten. Für Konsum ist wenig Spielraum, viele Einkaufskörbe bleiben leer.
Russland ist offiziell auf den Status eines Billiglohnlandes zurückgefallen. Einer Untersuchung der staatlichen Sberbank nach liegt das Durchschnittsgehalt russischer Angestellter bei umgerechnet 433 Dollar. "Arbeitskraft in Russland ist billiger geworden als in China", erklärte Sberbank-Chefanalyst Michail Matownikow während einer Präsentation vor Minderheitsaktionären. Auch in Polen, Serbien oder Rumänien, die in Europa am unteren Ende der Gehaltstabelle stehen, seien die Löhne im Mittel höher, fügte er hinzu.
Das ist eine für Russland in den letzten Jahren untypische Situation. In der Vergangenheit hatten sich viele ausländische Unternehmen – auch aus Österreich – über den Fachkräftemangel und die damit verbundenen hohen Lohnkosten beklagt. Der Rubelverfall hat den Trend im internationalen Vergleich umgekehrt.
Exportabsätze steigen
Laut Matownikow profitieren in Russland produzierende Unternehmen bereits von dieser Tendenz durch steigende Exportabsätze: So liefert das Petersburger Hyundai-Werk inzwischen Autos nach Ägypten, der italienische Haushaltsmaschinenproduzent Candy produziert in seinem Standort Kirow Waschmaschinen auch für den europäischen, japanischen und australischen Markt.
Des einen Freud, des anderen Leid: Was die Sberbank als Chance für russische Produzenten präsentiert, zeugt zugleich vom deutlich gefallenen Lebensniveau der Russen. Der Rubelverfall einhergehend mit zweistelligen Inflationsraten hat die Realeinkommen der Bevölkerung deutlich nach unten gedrückt. Gerade in der Provinz sind die Löhne niedrig. So verdienen beispielsweise Kindergärtnerinnen in Wladimir, der östlichen Nachbarregion von Moskau weniger als 200 Euro im Monat.
Immerhin will die Duma nun den Mindestlohn um 21 Prozent anheben. Was sich prozentual gewaltig ausnimmt, ist mit real insgesamt 100 Euro pro Monat immer noch sehr bescheiden. Noch ärmlicher fällt das ohnehin auf ein Jahr begrenzte Arbeitslosengeld mit umgerechnet maximal 65 Euro aus. Auch deswegen bleibt die Zahl der Arbeitslosen in Russland trotz Krise konstant – die meisten finden eher in der Schattenwirtschaft Unterschlupf als im Arbeitsamt.
Fehlende Steuerdisziplin
Auch deswegen sind die Zahlen der Sberbank, die offenbar auf Angaben des Statistikamts beruhen, mit Vorsicht zu genießen: So zahlen viele Arbeitgeber ihren Angestellten einen Teil ihres Lohns nach wie vor schwarz aus, um Steuern und Sozialabgaben zu sparen. In der aktuellen Krise dürfte sich die Anzahl der Unternehmen, die zu dieser "Steueroptimierung" greifen, noch erhöht haben. Tatsächlich dürfte der Durchschnittsverdienst der Russen also über den offiziellen Zahlen liegen.
Befriedigend ist die Lage der Bevölkerung trotzdem nicht. Laut der Statistikbehörde ist die Zahl der Russen, die unterhalb der Armutsgrenze leben auf 19,2 Millionen (13,4 Prozent der Bevölkerung) gestiegen und die Regierung geht in den nächsten Jahren von einer weiteren Verarmung der Bevölkerung aus. Der Höhepunkt wird demnach 2018 mit 19,9 Millionen erreicht – und womöglich nicht ohne Mithilfe der Regierung selbst: Das Wirtschaftsministerium hat nämlich mehrere Szenarien vorgelegt, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Eines davon sieht Beschränkungen bei Löhnen und Renten vor.
Demnach sollen, wenn sich der Ölpreis nicht deutlich und nachhaltig erholt, die Realeinkommen heuer um weitere 2,8 Prozent und im nächsten Jahr noch einmal um 0,3 Prozent schrumpfen. Rentner trifft es mit 4,8 (2016) und zwei Prozent noch härter.
Gürtel enger schnallen
Als Lohn für den enger geschnallten Gürtel sollen dafür die Investitionen in die russische Wirtschaft (plus sieben Prozent) und damit schlussendlich auch der Konjunkturmotor wieder anspringen. 2019, so die Hoffnung, wächst das Bruttoinlandsprodukt wieder um 4,5 Prozent. Dann könnten auch die Löhne wieder stärker steigen. 2019 soll das Lebensniveau damit wieder auf das Level von 2015 steigen – bis zum Vorkrisenniveau sind aber auch dann noch ein paar Jahre nötig.
Rentnern hingegen stehen schwere Zeiten bevor. Ihre Bezüge sollen auch nach 2019 nur die Inflation ausgleichen. Zudem erhöht sich nach der Rückkehr von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin in das Umfeld des Kremls der Druck auf die Regierung, das Rentenalter anzuheben. Kudrin ist einer der wichtigsten Unterstützer der Anhebung des Rentenalters. Bisher konnten russische Frauen mit 55 Jahren, Männer mit 60 Jahren in den Ruhestand gehen. (André Ballin aus Moskau, 20.5.2016)