Der World Value Survey 2014 bestätigt Klischees: US-Bürger schätzen ungleiche Einkommensverteilung, privates Unternehmertum und einen schlanken Staat viel mehr als die Europäer. Bei den Primaries 2016 sah das kurz anders aus. Bernie Sanders bekam für seine Konzepte mehr Zuspruch als erwartet, vor allem von den Gebildeten und den Jungen. Er wäre der erste Präsidentschaftskandidat seit Lyndon B. Johnson, der sich dezidiert für mehr Staat ausspricht. Johnson sind nicht nur die Bürgerrechtsgesetze zu verdanken, mit seiner "Great Society" hat er die Armutsraten dramatisch gesenkt und vieles mehr.
Private Wohltätigkeit Teil der US-Identität
Das ist nicht leicht in den USA. Skepsis gegenüber jeglicher Regierung ist Teil der Kultur. Dick Scott, Professor emeritus für Soziologie in Stanford, meint, dass der Unabhängigkeitskrieg nicht gegen England, sondern gegen Regierungsanmaßung gefochten wurde. Die Staatsquote beträgt 36 Prozent (in Österreich 52 Prozent), trotz hoher Rüstungsausgaben und einer Staatsverschuldung von 105 Prozent des BIPs (in der Eurozone 92 Prozent).
Elisabeth Clemens, Soziologin an der University of Chicago, untersucht in Stanford, wie private Wohltätigkeit zur US-Identität beigetragen hat. Im Bürgerkrieg 1861 waren es Privatinitiativen, Spenden und tausende Freiwillige, die in der US Sanitary Commission humanitär tätig wurden – vor der Gründung des Roten Kreuzes. Große Spendenbereitschaft dann auch bei Katastrophen: Nach dem Chicago-Brand 1871 wurde mit Spenden aus dem ganzen Land großzügig geholfen. Dafür waren die Chicagoer die Spendabelsten, als 1906 San Francisco durch das große Beben zerstört wurde. Politiker fördern privates Spenden und machten es zur identitätsstiftenden Massenbewegung – wie Franklin D. Roosevelt 1938 mit dem "March of Dimes".
Hohe Spendenbereitschaft
Zuletzt zeigte sich die Hilfsbereitschaft beim Hurrikan Katrina: 2006 wurden für dessen Opfer 4,2 Milliarden Dollar gespendet, das sind über 13 Dollar pro Einwohner. Beim deutschen Jahrhunderthochwasser 2002 beliefen sich die Privatspenden auf circa drei Euro pro Einwohner – und schon darauf war Deutschland sehr stolz. In Österreich spenden 60 Prozent der Bevölkerung, in den USA 67 Prozent. Bei uns sind das im Schnitt 90 Euro pro Einwohner und Jahr, in den USA 1.200 Dollar.
Wie gering der Einfluss der US-Bundesregierung ist, zeigt sich deutlich in der Bildungspolitik. 2002 wurde der No Child Left Behind Act (NCLB) erlassen. Ein flächendeckendes System von Mathematik- und Lesetests wurde implementiert, und die Schulen sollten mehr Geld bekommen. Letzteres blieb aus, weil viele Staaten die Anforderungen nicht erfüllen wollten. Bildungspolitik ist Sache der Bundesstaaten. Durch NCLB wurde auch die Charter-Schulbewegung gefördert. Charter-Schulen sind Vertragsschulen, die mit kämpferischen pädagogischen Konzepten gegen Segregation und soziale Diskriminierung antreten.
Bildungspolitik als große Baustelle
Viel geholfen hat das bislang nicht. Eine faszinierende Studie zur Bildungsungleichheit, erarbeitet in Stanford, zeigt, wie weit der Weg zur Bildungsgerechtigkeit ist. Sean Reardon und sein Team analysierten US-weit über 215 Millionen Testergebnisse in allen Schuldistrikten, von der dritten bis zur achten Schulstufe, von 2008 bis 2013. Die Ergebnisse sind erschütternd. In Detroit, Michigan, beträgt das Medianeinkommen 27.000 Dollar, 87 Prozent der Kinder sind Afroamerikaner, und die Leistungen der Kinder sind 2,3 Schulstufen schlechter als der US-Durchschnitt. In Lexington, Massachusetts, beträgt das Medianeinkommen 163.000 Dollar, und die Kinder sind 3,8 Schulstufen besser als der US-Durchschnitt. Insgesamt korreliert die Leistung der Schüler stark mit dem Einkommen ihrer Eltern.
Einzelne Schulbezirke zeigen zwar, dass man die fatale "Armut = Bildungsrückstand"-Dynamik brechen kann – sie bleiben aber die Ausnahme. Besonders erschütternd sind die Befunde zur ethnischen Segregation: Afroamerikaner sind schlechtere Schüler als Latinos, die sind wiederum schlechter als Weiße. In Städten mit starker Rassentrennung in den Schulen, zum Beispiel L.A., liegen afroamerikanische Schüler mehr als drei Schuljahre zurück. Es wäre höchste Zeit für einen neuen Lyndon B. Johnson. (Michael Meyer aus Palo Alto, 26.5.2016)